»Oh, so lange bist du schon hier.« Lydia sah zu ihrem Bett.
»Meine Mitbewohnerin ist vor kurzem heimgefahren. Sie wurde der Schule verwiesen«, meinte Julie.
»Was ist passiert?«, hakte Lydia nach.
»Nun, sie wurde mit einem Jungen erwischt.«
Lydia musste schmunzeln. ›Ja, so was gehört sich auch nicht‹, dachte sie. »Ach so, okay.«
»Wie ich sehe, hast du dir schon alles durchgelesen.«
Julie zeigte zum Ordner, der noch aufgeschlagen auf dem Bett lag.
»Ja. Wobei ich nicht weiß, ob ich es toll finde, dass ich keine Prüfungen dieses Jahr schreiben muss.«
»Ach, hattest du schon welche geschrieben?«
»Deutsch, Englisch und am Freitag war erst Mathe dran.
Nächste Woche wäre Konsultation und bald darauf meine mündlichen. Zudem hatte ich schon eine Facharbeit abgegeben«, plapperte Lydia drauflos und beobachtete das Mädchen dabei. Sie trug sehr enge Kleidung, was ihr aber ganz gut stand, denn sie war sehr schlank und groß und hatte ihre Haare zu einem Zopf gebunden, was sie jünger erschienen ließ, als sie war.
»Das ist ärgerlich«, bestätigte Julie und packte ihre Tasche aus. »Warst du auf der Realschule?«
»Ja. Ich hatte auch schon einen Ausbildungsplatz.«
»Wie jetzt?«, Julie hielt inne und schaute ihre neue Mitbewohnerin perplex an.
Lydia wusste zwar noch nicht viel über Julie, aber zumindest wirkte sie nicht eingebildet oder hochnäsig.
»Ich bin zwar ganz gut in der Schule, aber das Abitur stand nicht wirklich ganz oben auf meiner Liste. Mein Vater hatte mir das Internat vorgeschlagen und na ja, plötzlich war ein Platz frei und die Ausbildung rückte in weite Ferne.«
»Einfach so? Du hättest doch trotzdem die Lehre anfangen können?«, wollte Julie irritiert wissen.
»Sag mal«, lenkte Lydia schulterzuckend ab, »wie ist das mit dem Bücherclub und der Zeitung?«
»Du schreibst für die Zeitung. Dabei wird vorher allerdings festgelegt, für welchen Bereich du schreiben darfst und ob du überhaupt gut genug bist. Gut möglich, dass du auch gar nicht dafür arbeiten darfst. Und der Bücherclub nimmt jede auf. Du musst die Bücher allerdings auch lesen, die besprochen werden. Nur wenige machen wirklich mit. Es sind in der Regel andere Bücher, als in Literatur. Die Bücher sind im Preis inbegriffen und du darfst sie auch behalten.«, erklärte Julie schmoll.
Lydias Augen strahlten zum aller ersten Mal, das fand sie sehr gut.
»Aber es gibt durchaus Bücher, die echt mies sind.«
»Bist du auch im Club?«
Julie lachte. »Nein, aber ich habe Literatur als Hauptfach. Da du von einer ›gewöhnlichen‹ Schule kommst, ist es vielleicht zu viel und du kommst nicht hinterher. In der Abschlussprüfung kann es nämlich vorkommen, dass du über eins schreiben musst, was wir in der 10. Klasse gelesen haben.«
Lydia musste schlucken und räusperte sich.
»Aber ich glaube, du bekommst alle Bücher noch. Wir haben zehn Stück gelesen. Nach Ostern schreiben wir eine Arbeit über eins«, meinte Julie.
»Ach, da habe ich ja noch Zeit«, stellte Lydia fest und fügte hinzu: »Ich bleibe die Ferien über hier. Auch den Sommer über. Das hat mein Vater mit der Direktorin so abgemacht. Ich mache dann Praktika oder suche mir einen Ferienjob und kann so noch zusätzlich die Bücher lesen, die ihr schon durchgenommen habt.«
»Du fährst nicht weg?« Julie sah sie skeptisch an und es schien fast so, als würde sie einen kleinen Skandal oder ein tolles Gerücht erahnen.
»Nein.« Lydia wurde traurig, als Julie weitersprach.
»Du wirst dann aber die meiste Zeit komplett alleine sein!«
»Das macht nichts, Julie. Es gibt hier ja eine Bücherei und so wie ich gesehen habe, haben unsere PCs Internetanschluss.«
»Das Internet dürfen wir nutzen wie wir wollen. Aber trotzdem wird es nicht gerne gesehen, wenn wir zu lange online sind.«
Die beiden Mädchen unterhielten sich noch eine Weile, bis Julies Freundinnen kamen.
Julie stellte alle vor und fragte, ob Lydia draußen eine Zigarette mit rauchen wollte.
Die Nicht-Raucherin verneinte.
»Okay, dann sehen wir uns zum Abendbrot.«
Sie vernahm noch ein Kichern von draußen, dann atmete sie tief durch, schnappte sich ihre ausgefüllten Listen und gab sie im Sekretariat ab. Anschließend schlenderte sie noch über den Hof, hörte Musik über ihren MP3 Player und wollte einfach nur den Kopf freibekommen, ehe sie zum Abendbrot musste. Jeder Tisch im Speisesaal hatte eine Nummer und so konnte sie ihren ganz leicht ausfindig machen.
Obgleich sie zuletzt am Morgen etwas gegessen hatte, konnte sie nichts Essen. Ihr Magen fühlte sich eigenartig leer und doch viel zu voll an. Natürlich machte sie sich etwas auf ihren Teller drauf, damit sie nicht plötzlich mitten in der Nacht Hunger bekommen würde.
»Bist du etwa auch eine von denen, die nie was essen?«, fragte sie ein Mädchen mit dem Namen Barbara, wie sie nebenbei erfahren hatte. Sie war ein stämmiges Mädchen, hatte aber selbst nur einen Salat und etwas Hühnchen auf dem Teller.
»Nein, nein. Im Gegenteil. Aber ich war heute fast zehn Stunden unterwegs, Zugfahrt, Aufenthalt und so und irgendwie hab ich danach nie Appetit. Oder es liegt an der Luft hier. Frag meine Brüder, sie ziehen mich immer damit auf, dass ich zu viel esse«, erzählte Lydia nervös.
»Wie viele Brüder hast du?«
Da merkte Lydia plötzlich, dass sie im Plural redete. Es war eine Gewohnheitssache. »Hallo?«
»Oh, entschuldige. Ja, also, das ist kompliziert. Eigentlich hab ich einen Zwillingsbruder und drei Stiefbrüder.« Sie lächelte, wobei ihr Lächeln eher krampfartig aussah.
»So viele und du bist das einzige Mädchen?«
»Ja, soweit ich weiß, ja, wobei mein Zwillingsbruder selbst eine Stiefschwester hat.«
Barbara sah sie skeptisch an und war etwas verwirrt, musste dann aber doch lachen.
»Welches Buch lest ihr eigentlich gerade in Literatur?«, fragte Lydia in die Runde, hauptsächlich um abzulenken.
»Ach, was von Shakespeare, falls du den kennst.« Nun kam doch etwas der Ton eines Snobs hervor. Wer kennt William Shakespeare nicht?
»Shakespeare? Super!«
»Sag bloß, du liest so was?«, riefen fast alle aus.
»Ja, könnte man sagen«, meinte die fünfzehnjährige.
Alle am Tisch sahen sie entsetzt an.
»Na, dann wirst du es ja nicht so schwer haben«, antwortete Barbara.
»Kommt drauf an, was ihr genau liest.«
»Hattest du das in der Schule?«, wurde sie gefragt.
»‹Romeo und Julia‹ - aber da ging es eher um den Kinofilm mit Claire Danes und Leonardo DiCaprio.«
Natürlich las Lydia so was. Sie liebte jegliche Art von Büchern - über Lyrik und Poesie, Krimi und Thriller, bis hin zu Liebesromanen und Romanen im Allgemeinen.
Doch auch schon auf ihrer alten Schule war sie eine Außenseiterin, weil sie lieber las, als über Make – Up zu sprechen. Sie mochte dieses oberflächliche Getue nicht. Sie war lieber für sich, so vermied sie ärger.
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