Hast uns aber nie verurteilt. Auch wenn wir nicht blutsverwandt sind, so bleibst du immer ein Teil von mir.
Du kannst immer auf mich zählen. Mach dir nicht zu viele
Gedanken und Sorgen! Du warst immer unser Sonnenschein und du wirst uns allen sehr fehlen! Vater war am Samstag am Boden zerstört. Und noch immer kämpft er mit seinen Gefühlen. Du musst wissen, dass er dich gerne in die Familie aufnahm und er sich bereitwillig um dich gekümmert hat.
Selbst als unsere Mutter wegging, wäre er nie auf den Gedanken gekommen, dich wieder wegzugeben. Er hat den Wunsch deiner Eltern sehr ernst genommen. Sie waren so liebe Menschen, sagte er immer wieder.
Warum er nie mit dir darüber sprach, ist eigentlich leicht, zu verstehen: Er wollte deine unbeschwerte Art nicht gefährden. Er wollte nicht, dass du glaubst, eine Last zu sein. Das warst du nicht. Besonders nie für Steve.
Unser Vater gab mir eines Tages eine Kiste. Er befürchtete, dass du sie vielleicht findest. Es ist nicht viel, aber du hast ein Recht zu wissen, wer deine Eltern waren. Ich hab dich sehr gerne, alles Liebe wünschen dir Maria und dein Bruder, Michael. Wenn du mal Geld brauchst, sag Bescheid! Ich hoffe, du kannst mir irgendwann verzeihen.«
*
Lydia weinte, während sie den Brief las.
›Ein Foto von Shannon und James, von meinen Eltern. Sie sehen so lieb aus. Was ist hier noch ... Eine Decke‹, dachte sie, während sie die Kiste durchwühlte.
Es war Babydecke, LYDIA war ein gestickt, dazu ein kleiner Zettel, in der Handschrift von Michael:
»Toms Eltern hatten auch so ein Päckchen, aber das schickten sie ebenfalls zu mir, damit er es nicht finden konnte. Sobald ich ihn sehe, werde ich es ihm überreichen.«
Lydia war erleichtert und Michael sehr dankbar.
Ein Kuscheltier, weitere Fotos - von Tom und ihr, als sie gerade wenige Stunden alt waren, und noch andere Bilder.
Dann bemerkte sie ein Schmuckkästchen mit ihrem Namen drauf. Ihre Hände zitterten, als sie das Kästchen öffnete und ein Armband aus Silber darin entdeckte. Der Name ihrer Eltern war eingraviert, ein Ring fand sie ebenfalls vor. »Oh Gott, das muss der Verlobungsring meiner Mutter gewesen sein«, stieß sie laut hervor.
Das war’s, mehr war nicht darin. Sie suchte nach einem weiteren Brief. Sie hoffte, einen Brief ihrer Eltern zu finden, doch da war nichts. Tief in Gedanken versunken, merkte sie wieder nicht, wie ihre Mitbewohnerin sie ansprach. Lydia schüttelte sich.
»Was hast du denn schönes zum Geburtstag erhalten?«
Lydia zeigte ihr alles.
»Nett.« Lydia, noch immer mit ihren Gedanken beschäftigt,
bemerkte nicht den ironischen Ton in der Stimme von Julie und bedankte sich nur.
Kurz darauf war sie wieder alleine im Zimmer und legte die Sachen sorgfältig in ein Fach im Schreibtisch, welches sich abschließen ließ. Dort bewahrte sie auch die Briefe auf. Das
Armband zog sie aber um.
Sie setzte sich, und begann Michael zu antworten.
*
»Hallo, Michael,
danke für deinen Brief.
Es war lieb von dir, mir zu schreiben.
Ich danke dir für das Päckchen. Es bedeutet mir unendlich viel, das alles erhalten zu haben. Vielen
Dank. Du warst immer derjenige, der dafür sorgte, dass Sammy und ich nie alleine waren und das uns nichts fehlte.
Dass wir beide uns dennoch nie richtig unterhalten konnten, lag wohl am Altersunterschied. Wenn ich so darüber nachdenke, hat mich auch selten was mit Sammy verbunden. Er ist zwar nur wenige Jahre älter als ich, aber seit Jahren interessiert er sich nur noch für seine Freunde. Mit Steve konnte ich allerdings immer Pferde stehlen. Woran das liegt, weiß ich nicht. Ich mag dich und deine Frau sehr gerne. Maria ist ein liebevoller Mensch und ihr zwei seid so niedlich zusammen.
Du bist sicherlich ein toller Ehemann.
Dass du die Dinge, in deinem Brief, so deutlich geschrieben hast, wie es sonst niemand täte, finde ich gut. Natürlich bin ich in der Pubertät - auch wenn es peinlich ist, darüber zu reden. Ich weiß auch, was es bedeutet, wenn jemand eine ›Sportzeitschrift‹ liest und einen dabei aber nicht in die Augen sehen kann. Das hab ich alles von euch gelernt. Ich habe gerade erst meinen ersten Kuss bekommen und da drehte sich alles in mir, also kann ich nachvollziehen, worauf du angesprochen hast. Dann ist auch noch Frühling und da spielt ja eh alles verrückt. Doch eins kann ich dir versichern: Ich würde nie weiter gehen. Ihr habt euch alle Sorgen gemacht, dabei wäre nichts passiert.
Auch wenn mein Herz jetzt gebrochen ist, so werden die Scherben irgendwann wieder an ihren alten Platz zurückkehren und es wird langsam wieder heilen. Vergessen werde ich nie. Es war mein erster Kuss. Die Schmetterlinge in meinem Bauch sind gestorben. Aber keine Sorge, Michael, es ist okay. Alles wird wieder gut.«
Lydia schrieb und schrieb und erzählte nun, was sie sich für die Schule vorgenommen hatte.
»Du bist ein toller Mensch. Lass meinen Brief als solchen im Raum stehen, ohne noch einmal darauf einzugehen. Ich bin dir nicht böse. Ich hab dir doch schon längst verziehen. Dennoch brauche ich Abstand. Ich hoffe, du verstehst das. Sage Sascha vielen Dank für alles.
Ich werde ihn beim Vornamen nennen, wenn er nichts dagegen hat. Ich weiß noch immer nicht, wie ich euch allen gegenüber treten muss/ kann/ darf/ soll. Ich werde mich in der Schule anstrengen und alles geben, was ich kann.
Irgendwann werdet ihr vielleicht stolz auf mich sein.
Deine Lydia!«
*
Mit einem Buch und dem Brief in der Hand ging sie nach unten. Den Umschlag schmiss sie in den Postkasten und mit dem Buch verzog sie sich auf eine Wiese. Sie setzte sich an einen Baum und begann zu lesen.
So verbrachte Lydia von nun an die Nachmittage, wenn die Schule zu Ende war.
7. Zeit zum Nachdenken und arbeiten
Es war Ostern und jede hatte Besuch bekommen oder die Mitschülerinnen waren weggefahren, alle außer Lydia Schaf. Dafür aber erhielt sie einen Brief von Tom.
*
»Hallo, Schwesterchen!
Danke für deinen Brief. Jetzt komm ich mir reichlich blöd vor, weil ich dir nur eine so dumme Karte geschickt habe.
Michael hat mir am Dienstag ein Päckchen vorbeigebracht. Er meinte, du hast das gleiche bekommen. Das ist toll. Auf die Sachen werde ich gut achten. Mehr möchte ich dazu nicht schreiben.
Da du mich ermutigt hast, ehrlich und offen zu sein, werde ich auch so schreiben.
Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken, als wir das erfuhren, was wir jetzt so deutlich spüren. Ich bin doch auch nur ein Junge und nehme viele Sachen nun anders wahr als früher. Du bist mit drei Jungs groß geworden, du weißt, was das bedeutet. Ach Lydia, das ist mir alles so unangenehm gewesen. Natürlich fühle ich jetzt nicht mehr so.
Aber da war etwas zwischen uns und hätten wir nicht das erfahren, was unser Gleichgewicht störte, hätte ich weiter so an dich gedacht! Es war auch mein erster Kuss, musst du wissen. Ich werde ihn nie vergessen. Doch nun ist er ein Teil dessen, was sehr schmerzt. Es tut einfach nur weh, zu wissen, dass die Menschen, die einen aufwachsen sahen, nicht die sind, die sie uns vorgaben.
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