An Lydias freien Wochenenden las sie die Bücher, die sie bis zum Schulbeginn lesen sollte. Sie kam gut voran. Auch unter der Woche schlief sie erst ein, wenn sie eine Weile gelesen hatte.
Mittlerweile bewohnte sie das Zimmer alleine. Julie war über Sommer weggefahren. Lydia war eigentlich froh darüber, denn so konnte sie tatsächlich aufstehen, wann sie es wollte und nicht Rücksicht nehmen.
An einem Samstag wurde ihr ein Päckchen überreicht, als sie gerade das Gebäude betreten hatte.
»Dankeschön.«
Sie nahm es mit nach oben. Es war von ihrem ... na ja, von Sascha:
»Hallo, Lydia! Lange ist es her, nicht wahr? Ich möchte auch nicht viel schreiben. Uns geht es allen gut, du fehlst uns allerdings. Damit dir der Sommer nicht allzu langweilig wird, schicke ich dir deinen Fernseher. Habe viel Spaß damit. Sascha.« Es war nur ein kleiner, der tatsächlich nicht sonderlich schwer war.
Lydia dachte nach. Sie schaute auf die Uhr und ging in einen Gemeinschaftsraum.
»Hallo, ich bin’s, Lydia.«
»Hallo.« Ihr Vater war dran.
»Ich wollte mich für den Fernseher bedanken. Wie geht’s dir?«
»Freut mich, dass er schon angekommen ist. Mir geht’s gut und dir?«
»Wenn ich ehrlich bin, bin ich etwas geschafft.« Sie musste lachen. »Ich hab meine erste Praktikumswoche hinter mir.«
»Oh, wirklich. Was hast du gemacht?«
»Ich arbeite bei einer Zeitung. Dort bin ich immer unterwegs und schreiben darf ich auch. Ich hebe alle Artikel auf und wenn ihr wollt, kann ich sie euch schicken. Und falls ihr die Zeitung von hier findet, könntet ihr am Montag ein Bild von mir drinnen sehen.« Lydia erklärte es.
»Schön«, sagte ihr Vater spürbar stolz.
»Lydia das Supermodel ...«, hörte sie im Hintergrund jemanden lachen.
»Ist Steve etwa da?«
»Ja, genau. Willst du ihn sprechen?«
»Du hast ja sicherlich Lautsprecher an. Ich wollte mich mal wieder bei dir melden. Es ist wirklich schon etwas her.«
»Warte, Stephen will dir noch was sagen. Ich verabschiede mich mal.«
»Okay, mach’s gut, Sascha.«
Sie hörte einen Seufzer am anderen Ende.
»Hi, Lydia!«
»Hi. Na, wie geht’s?«, fragte sie und wusste nicht, wieso sie auf einmal so aufgeregt war.
»Alles bestens. Tom ist noch nicht zum Antworten gekommen - er musste so viel lernen in letzter Zeit. Aber er will es nachholen. Seinen Abschluss hat er ja jetzt in der Tasche. Er hat übrigens eine Freundin und diese nimmt ihn sehr in Anspruch!«, meinte er schmunzelnd.
»Wirklich? Wen?«
»Svenja.« Lydia hätte beinahe den Hörer fallen gelassen. »Ja, er weiß, dass du sie nicht leiden kannst - ich mag sie auch nicht. Aber sie scheinen sich ganz gut zu verstehen.«
»Mmh. Wenn er meint. Aber irgendwie dachte ich mir das schon. Ach herrje, Svenja ist seine Freundin«, sagte Lydia und versuchte nicht ganz so missbilligend zu klingen.
»Noch kommen sie gut zurecht.«
»Ja, klar. Ach, eigentlich ist sie ja auch ein nettes Mädel, sie hat nur ihre Nettigkeit für einen Jungen aufgehoben und es nie anderen gezeigt.« Steve musste lachen.
»Und du Lydia, wie sieht es bei dir aus?«
»Stevie, im Internat sind 120 Mädchen. Es wäre schockierend, wenn ich hier jemanden fände«, erzählte sie im Scherz.
»Ich hab damit kein Problem«, konterte er. Lydia auch nicht, aber sie mochte nun mal Jungs.
»Nein, sicherlich nicht. Was ist mit dir?«
»Nein, bei mir gibt’s da nichts. Ich hab zu viel auf Arbeit zu tun. Du kennst das ja mittlerweile, du arbeitest ja selbst bei einer Zeitung.« Ganz entsprach das allerdings nicht der Wahrheit. Lydia spürte es, aber sie wollte ihn nicht zu sehr drängen.
»Wie sieht es eigentlich mit meinem Rätsel aus?«
»‹Kloster Nordhanger‹, ›Emma‹ und ›Überredung‹ hab ich gelesen. Aber da kam nichts vor.«
Lydia musste lachen. »Wie fandest du sie?«
»Interessant, hätte ich nicht gedacht.« Dann machte er eine kleine Pause. »Sag mal, hast du eigentlich Internet?«
»Ja, hab ich.«
»Auch in deinem Zimmer?«
»Ja, warum?«, fragte sie skeptisch.
»Wollen wir nicht mal irgendwann chatten?«
»Chatten? Magst du keine Briefe mehr schreiben?«
»Natürlich will ich dir schreiben - wenn ich endlich mal dahinter käme, was du meintest - aber ich vermisse dich einfach. Also ich vermisse unsere Gespräche, unsere stundenlangen Telefonate und dass wir oft gechattet haben. Das war immer toll und hat Spaß gemacht.«
»Selbstverständlich können wir mal wieder chatten. Ich muss die Tage eh ins Internet und vielleicht bist du ja dann zufällig online.« Sie hörte, wie er den Lautsprecher ausmachte.
»Lydia, als du am Sonntag ...«, wollte er ansetzen, aber sie ließ ihn nicht ausreden.
»Steve, hast du das noch nicht überwunden. Mensch, das muss ja ein grässlicher Anblick gewesen sein.«
Stephen kicherte leise und meinte dann:
»Ich hoffe, ich habe bald die Bücher alle durch, die ich deinetwegen lese.«
»Tut mir leid.« Sie merkte plötzlich, dass sie etwas von ihm verlangte, was vielleicht zu viel war.
»Was denn?«
»Du liest etwas nur meinetwegen. So viele Bücher. Sie sind alle nicht gerade dünn und dann noch dieser Stoff. Muss echt schlimm für dich sein. Du musst sie nicht lesen. Es ist schön, dass du dir die Mühe gemacht hast. In der Videothek gibt es viele Verfilmungen oder frag Tom, er hat - soweit ich weiß - alle auf DVD. Aber nicht mal das musst du dir noch weiter antun. Irgendwie wollte ich nur, dass wir beide genug Zeit haben, um alles zu verdauen. Aber inzwischen sind zwei Monate vergangen. Irgendwie hab ich die Zeit falsch eingeschätzt. Bitte schreib mir einfach.« Sie musste sich Luft machen, hatte schon länger darüber nachgedacht.
»Quatsch. Es ist schön, mal etwas vollkommen anderes zu lesen. Früher hab ich dich immer dazu gedrängt, dich für meine Hobbys zu begeistern. Aber nun bin ich dran, mich für dich zu interessieren. Äh, ich meinte, mich für deine Interessen zu interessieren und mich schlauzumachen, was dich fesselt.«
Natürlich spürte Lydia, dass er sich nicht verhaspelt hatte.
»Steve, was ich«, sie brach ihren Satz selbst ab und räusperte sich: »Es freut mich natürlich, dass du so denkst. Aber du musst es nicht weiter machen. Schreib mir einfach.« Sie schaute sich in diesem gigantischen Gruppenraum um und kam sich so verloren vor. Sie vermisste ihre Familie.
»Dann werde ich das bald machen«, sagte er erleichtert.
»Wir sind Freunde, ja? Ich meine, du ...«
Dieses Mal unterbrach er sie: »Natürlich sind wir Freunde. Aber entschuldige, ich muss leider los.«
»Ich wollte dich nicht aufhalten. Mach’s gut.«
»Hast du nicht, bye.« Er legte direkt auf und zurückblieb ein dumpfes Gefühl. Sie konnte gar nichts weiter sagen. ›Steve ist komisch geworden.‹ Irgendwie ahnte sie ja was, aber sie nahm es nicht ernst. Es war eh absurd.
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