Stephen ruft mich oft an, um mit mir zu reden. Das ist nett von ihm, wobei ich glaube, dass du ihn darum geben hast. Er ist wirklich in Ordnung. Ich merke auch, dass er dich sehr vermisst. Er erzählte mir, das er gerade Jane Austen liest.
Du hast ihm eine Aufgabe gestellt und diese will er lösen, sagte er.
Ich kann mir vorstellen, was das für eine ist.
Ja, ich habe mit meiner Familie geredet.
Wir unterhalten uns sehr oft. Ich habe Madlen übrigens deinen Brief gegeben. Sie bat mich, kurz zu warten, las ihn sich durch und kurz darauf legte sie mir einen Ausbildungsvertrag hin.
Sie zeigte mir den Brief. Du batest sie, mir deinen Platz zu überlassen, wenn sie mich sympathisch findet. Ich danke dir! Ich habe es meinen Eltern erzählt und sie haben den Vertrag gleich unterschrieben. Das hast du gut durchdacht. So kann ich nämlich deine Familie auch kennen lernen und muss nirgends hin. Mit deinem Vater hab ich mich auch unterhalten.
Mit Sam war ich bereits Basketball spielen. Sie sind wirklich alle nett zu mir.
Doch für dich muss es schrecklich sein. Ich habe hier alle um mich herum. Und du bist alleine. Steve hat mir erzählt, dass du nur zu mir und ihm den Kontakt erst einmal halten willst. Aber auch erst, wenn er das Rätsel gelöst hat, und das kann eine Weile dauern. Michael hat mich gestern angerufen und mir von deinem Brief erzählt. Er hat mit mir auch über das Thema Pubertät geredet. Schon komisch, mit jemanden darüber zu reden, den man nicht oder kaum kennt. Aber vielleicht war das ja gut so. Peinlich, als er mir erzählte, dass du gewisse Verhaltensmuster kennst. Ich entschuldige mich dafür bei dir. Ich glaube, ehe ich mich wieder in ein Mädchen verlieben kann, wird es dauern.
Das du über Ostern alleine bist, ist schlimm. Ich wünschte, ich könnte dich besuchen, aber das möchtest du sicherlich nicht und du willst bestimmt auch niemanden sehen. Ich glaube, selbst einen Brief zu lesen, wird dir wehtun. Ich wünsche dir eine schöne Osterzeit. Ich habe dir ein Foto beigelegt, damit du mich nicht vergisst. So im Nachhinein sehen wir uns wirklich viel zu ähnlich, um es nicht zu bemerken.
Bis bald, Tom.
P.S.: Bevor ich es vergesse: Deine Klassenkameraden haben mich lange ausgequetscht und gefragt, wo du bist und auch wer ich bin. Ich hab ihnen erzählt, dass du unbedingt auf eine Privatschule wolltest und der Platz kurzfristig frei wurde.
Ja, und ich hab gesagt, dass ich dein Bruder bin. Die Fragen anschließend waren nervig. Aber ich hab mich ganz gut raus geredet. Für dich ist es am Ende eh egal im Prinzip, da du sicherlich die meisten nie mehr wiedersehen willst. Aber ich soll dir einen Gruß von allen ausrichten!«
*
Sie nahm das Foto und klebte es mit Klebeband an ihre Wand – neben denen von ihrer Familie. Das mit ihren richtigen Eltern lag auf dem Nachttisch. Lydia setzte sich wieder an den Schreibtisch und beantwortete gleich den Brief.
Sie überlegte, was sie schreiben könnte und fing einfach an, ohne weiter nachzudenken. Ließ einfach ihren Gefühlen freien lauf und bemerkte auch, dass eine Träne auf das Papier platschte, als sie an einige Dinge dachte. Etwas Neid empfand sie auch, aber sie war froh, dass sich alle so gut um ihn kümmerten. Sie freute sich für ihn und all die Chancen, die er erhielt. Selbst Sammy verbrachte Zeit mit ihm, was sie sehr überraschte!
Sie schrieb über das, was auch Michael andeutete und was sie früher unter den Betten der Jungs gefunden hatte, als sie saubermachte. Sie wünsche ihm viel Glück und Erfolg bei seinen Prüfungen und in der Ausbildung und gab ihm noch ein paar Tipps.
Ihre Gedanken wanderten zu Stephen und den Augenblick, als er sie ihm Bad überraschte. Sein Gesichtsausdruck dabei war merkwürdig. Dann fiel ihr wieder ein, wie er sich ihr gegenüber seit einiger Zeit verhalten hatte. Im Nachhinein wurde ihr bewusst, dass er sie oft wie ein rohes Ei behandelte. Sie schüttelte irritiert den Kopf und beendete den Brief und schickte auch diesen direkt ab.
Sie musste sich zusammen reißen. Sie wollte schreien, wollte rennen, fluchen, boxen. Doch sie konnte nicht. Denn, so wusste sie, wenn sie den Schmerz, den Verlust und all ihre Gefühle zuließe, würde sie sehr tief fallen. Und das durfte sie nicht zulassen. Niemals wollte sie Schwäche zeigen.
Alles Schein, kaum Sein.
Das Schuljahr neigte sich dem Ende und sie hatte alle Bücher durch. Das war im Grunde aber kein Wunder, da sie vier davon bereits kannte und sie diese nur noch überfliegen musste, um sich deren Inhalt wieder bewusst zu werden. Die neuen Bücher, für die elfte Klasse, erhielt sie wenig später.
Lesestoff! Sie verkroch sich gerne in die Welt der Bücher.
Eigentlich versteckte sie sich. Sie floh vor ihren Gedanken und Gefühlen.
Niemand meldete sich bei ihr.
Zudem bekam sie noch eine Liste mit den Ferienjobs, die frei waren, und auch mit Plätzen, die für ein Praktikum zur Verfügung standen. Lydia studierte die Angebote und stellte sich bei einigen vor - manche waren direkt im Haus oder im Ort, aber nie sonderlich weit weg.
Sechs Wochen hatte sie zur Verfügung. Fünf davon wollte sie arbeiten. Sie hatte sich für vier Sachen beworben und alle auch bekommen: Praktikum bei einer Zeitung für zwei Wochen - da arbeitete sie Vollzeit. An vier Samstagen würde sie in einem Buchladen die Ware einsortieren. Montags und dienstags war sie in einem Theater tätig - erledigte dort die Laufarbeit, kümmerte sich darum, dass die Kostüme passten, und brachte sie notfalls zum Schneider - es war mehr ein Praktikum als ein Job. Und zum Schluss hatte sie noch für Mittwoch bis Freitag eine Arbeit in einem Laden gefunden, der CDs und DVDs verkaufte - dort konnte sie die Ware einräumen und auch Kunden beraten, wäre aber meist im Lager aktiv.
Viel Arbeit lag vor ihr. Und sie freute sich darauf. Es war ihr wichtig. Sie wollte es durchziehen, damit sie niemanden enttäuschen würde.
Faul in der Sonne liegen war nicht ihr ›Ding‹.
Ihre Gedanken mussten stets Beschäftigung haben, denn sonst würde sie in ein tiefes Loch fallen. Ein Loch, welches sie nie mehr hochklettern könnte.
Sie schlief nach wie vor sehr schlecht.
*
Und während sich Lydia verstoßen und einsam fühlte, wühlte auch bei Stephen ein ziemlicher Sturm. Sooft schon wollte er ihr Schreiben, sooft schon ›simsen‹. Doch nie konnte er sich dazu durchringen. Es war einiges passiert - in seinem Leben.
Und immer wieder rang er mit sich selbst.
*
Schon recht früh begann der Tag für Lydia - sie war wach, noch bevor die Sonne aufging oder zur selben Zeit.
Ihr Praktikum bei der Zeitung war sehr interessant. Sie lernte viel. Diese Tätigkeit dort war wichtig, damit sie bei der Schülerzeitung mitmachen konnte. Schon am ersten Tag durfte sie einige Kurzmitteilungen erarbeiten und schreiben und ab 14 Uhr war sie noch Sekretärin. Somit konnte sie auch das als Referenz später angeben. Am zweiten Tag sollte Lydia zu einem Sommerfest. Sie machte Fotos und notierte sich alles, was sie erlebte. Mittwoch hatte sie sehr viel zu erarbeiten. Die Praktikantin schrieb das, was am Wochenende an Aktivitäten war und noch vieles anderes. Zudem lernte sie alles über das Layout.
Der Tag darauf war wieder interessant für sie. Sie durfte mit dem Chef wegfahren und Termine wahrnehmen, die außerhalb waren. So sah sie auch etwas von der Gegend und dazu konnte sie den Dialekt etwas besser erfassen. Am Freitag fuhr sie mit dem Fotografen mit, der eine Fotoserie machen wollte. Sie schaute ihm zu und sollte sogar selbst mit aufs Bild.
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