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Als Stephen den Hörer auflegte und sich umdrehte, sah er seinen Vater mit verschränkten Armen dastehen.
»Was ist?«
»Das wollte ich dich fragen, mein Sohn«, er klang streng und angesäuert. Stumm verließ er das Haus seines Vaters und setzte sich in sein Auto. Er atmete tief durch und verfluchte sich selbst. Irgendwann musste er mit ihr reden. Er belog sie schon wieder. Doch dieses Mal würde es sie heftiger mitnehmen, das wurde ihm bewusst. Er wollte sie nicht noch mehr verlieren.
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Die zweite Woche des Praktikums brachte Lydia hinter sich und war zufrieden mit ihren Leistungen. Sie wusste, dass sie nicht so gute Artikel und Berichte schrieb wie Steve, zum Beispiel. Aber sie war stolz auf sich. Und so konnte sie die anderen Jobs angehen. Noch immer aber hatte sie keinen Brief von Tom oder Steve erhalten und sie machte sich langsam Sorgen. Es war nun Juli und das Wetter war immer sehr schön.
Wenn sie nicht gerade Arbeiten war, saß sie viel draußen. Fast alle Bücher waren gelesen. Sie freute sich darauf, bald wieder ihre Eigenen hervorzukramen.
Im nächsten Schuljahr würde es vom Buchclub neuen Lesestoff geben und sie konnte es kaum erwarten.
Das war alles spannend. So schlecht fand sie ihre Situation nicht mehr. Sie hätte nie so viel gelesen, wenn sie nicht ins Internat gekommen wäre, oder die Ferien anders verbracht hätte.
Während Lydia lernte, las oder auf der Arbeit war, spürte sie ein Gefühl des Glücklichseins. So wie es war, war es gut.
Lesen, arbeiten und faulenzen war alles, was sie benötigte.
Sie brauchte keinen Luxus. Sie hörte ihre Musik und war einfach nur glücklich endlich das zu machen, was sie Interessierte. Ohne an Jungs zu denken, oder an all die Geheimnisse, die noch immer irgendwo verborgen waren.
Alles verlief so, wie es sein sollte. Natürlich war sie einsam und manchmal konnte sie auch nicht mal mehr lesen - dann guckte sie einfach TV (meist abends) oder DVD und schon war sie wieder irgendwo, nur nicht da, wo sie ihre Gedanken hinbrächten.
Ihre Alpträume verebbten auch alsbald. Zwar träumte sie hin und wieder immer noch sehr schlecht, doch schlichen sich überwiegend angenehme Themen in ihr Unterbewusstsein.
Nun schlief sie auch wieder gerne.
Zudem knüpfte das Mädchen einige Kontakte. Sie lernte viele Leute durch ihre Arbeit kennen.
Zwar unternahm sie nicht wirklich oft was mit ihren Kollegen, aber auf Arbeit war sie keine Einzelgängerin. Allerdings blieb sie nicht nur im Wohnheim. Sie ging ein paarmal ins Kino, sah sich einige Theateraufführungen an und ›rockte‹ auf einem Konzert.
Richtige Freundschaften wollte sie nicht schließen. Außer mit Daniel. Sie lernten sich im Theater kennen. Er war sehr nett und überredete Lydia auch mal nach Feierabend was zu unternehmen. Daniel war 20 und machte gerade seine Ausbildung. Zu zweit verbrachten sie am Nachmittag Zeit miteinander und sie freute sich immer, ihn zu sehen.
Kurz vor der vierten Ferienwoche erhielt Lydia endlich einen Brief von Thomas.
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»Hallo, Lydia!
Du wunderst dich sicherlich, dass ich dir nicht schon eher schrieb. Aber, wie du ja von Steve erfahren hast, ist bei mir einiges passiert. Ich habe eine Freundin. Du kennst sie ja schon. Ich weiß, dass du sie nicht leiden kannst, aber sie ist wirklich wunderbar, wenn sie nicht mit den anderen zusammen ist. Nach einer Prüfung kam sie auf mich zu und wir haben uns lange unterhalten. Danach sind wir noch spazieren gegangen. Irgendwann hat es dann gefunkt. Ja, ich hatte gemeint, dass ich mich sicherlich nicht so schnell verlieben werde, aber das Herz macht, was es will. Du kennst es ja. Wie sieht es bei dir aus?
Mittlerweile geht es mir sehr gut. Svenja hat mich wieder aufgemuntert. Wir sind uns auch schon sehr nahegekommen und sie übernachtet oft bei mir. Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht, dass ich mein erstes Mal mit ihr verbracht habe. Im Grunde geht es dich ja auch nichts an. Ich wollte es dir nur erklären. Steve hat gemeint, dass du viel arbeitest. Somit wirst du ja eh keine Zeit haben. Wenn du Lust und Zeit hast, kannst du mir ja antworten. Tom.«
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Lydia saß an ihrem Lieblingsplatz, während sie den Brief las.
Stifte und einen Schreibblock hatte sie immer bei sich. Also konnte sie direkt antworten, wollte gar nicht zu viel schreiben, denn irgendwie hätte sie wahrscheinlich nur etwas Falsches geschrieben. Der Brief klang einfach merkwürdig distanziert.
Allerdings, so musste sie sich eingestehen, kehrten ihre Alpträume vermehrt zurück. Ihre Vermutung, einfach vergessen worden zu sein, verstärkte sich. Ja, sie meinte, sie bräuchte eine Auszeit. Aber würden sich wahre Freunde nicht einfach manchmal erkundigen, wie es einem geht? Eine SMS, eine Mail - mehr brauchte sie nicht.
Als Tom ihren Brief erhielt, erzählte er nebenbei Sam von Lydias Freund und dieser plauderte es weiter. Tom und Sam wurden gute Freunde. Und auch Steve befreundete sich mit Lydias Zwillingsbruder an und mit dessen Stiefschwester.
Doch von all der Harmonie spürte Lydia nichts.
Wenige Tage später war sie wieder im Theater und musste ein paar Sachen erledigen.
»Hi, Lydia!«
»Hi, Daniel, wie geht’s?«
»Gut, danke. Sag mal, hast du heute Abend Lust, mit auf eine Feier zu kommen?«
»Du weißt doch, ich kann nur bis 20 Uhr wegbleiben.«
Ja, auch in den Ferien musste sie sich an die Hausordnung halten. Nur mit Ausnahme konnte sie auch mal länger wegbleiben - wenn ein Konzert war oder sie ins Kino wollte.
Nur mit Genehmigung also. Wobei sie allerdings abends länger wach bleiben konnte, solange sie niemanden störte.
»Stimmt ja«, sagte Daniel und schlug sich gegen die Stirn.
»Und was ist, wenn nur wir zwei was unternehmen? Die Feier fängt erst spät an.«
»Klar. Von mir aus. Was hast du denn geplant?«
»Wir könnten ins Freibad gehen«, schlug ihr Kollege vor.
»Oh, ich weiß gar nicht, ob ich einen Badeanzug habe«, meinte sie nachdenklich.
»Mmh. Wir können gleich einkaufen gehen?«
Sie musste lachen.
»Ja, ich wollte mir eh einen kaufen. Dann lass uns doch einen Shoppingtag hinlegen. Sieh mal aus dem Fenster!« Es regnete und sah ungemütlich aus.
»Ich soll dir dabei zu sehen, wie du dir verschiedene Klamotten anziehst?«, schmunzelte er.
»Ja, du kannst mich ja beraten. Vielleicht brauchst du ja auch neue Sachen.« Sie sah ihn von Kopf bis Fuß an und musste lachen.
»Du bist gemein«, grinste Daniel.
Sie mochte es, sich mit ihm etwas zu necken. Sie fand ihn zudem sehr niedlich. Verliebt war sie aber nicht.
Lydia trug gerne einen sommerlichen Hut und so störte der Regen auch nicht, war aber froh, als sie einen Laden erreichten - der tolle Klamotten hatte, aber nicht teuer war. Sie verdiente ja ganz gut Geld, dafür dass sie kaum Ausgaben hatte. Ihr Vater überwies ihr zudem monatlich eine Summe auf ihr Konto, die nicht zu verachten war, aber sie wusste mittlerweile, dass das Leben nicht vorhersehbar war und von jetzt auf gleich alles anders sein könnte.
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