Die Strenge, die ihr Vater ihr gegenüber vorbrachte, war so unnatürlich. Als ob er endlich wieder Er selbst sein konnte.
Das galt wohl auch für die anderen. Ihr wurde bewusst, wie wenig Zeit sie mit Sam verbrachte. Wahrscheinlich seitdem er wusste, wer sie wirklich war.
Doch war dies erst der Beginn, …
Das Mädchen war komplett am Ende. Alle paar Minuten dachte sie an etwas anderes und dann grübelte sie sehr lange darüber. Doch irgendwann schlief sie vor Erschöpfung einfach ein, während sie ein Buch noch in der Hand hielt. Als der Zug hielt, musste sie erst einmal überlegen, wo sie sich befand und dann prasselte die Realität wieder auf sie ein.
Die Strecke bis zum Internat selbst fuhr sie mit einem Taxi. So weit war es zum Glück nicht, vielleicht zwanzig Minuten. Der Taxifahrer schien ihre Stimmung zu registrieren, denn er ließ sie in Ruhe, lächelte sie aber freundlich an, als sich ihre Blicke im Rückspiegel begegneten. Sie versuchte, ein Lächeln zustande zu bekommen, und blieb natürlich freundlich.
»Hallo. Lydia Schaf mein Name. Ich wollte mich anmelden.«
»Guten Tag. Hatten Sie eine angenehme Fahrt?«
»Ja, vielen Dank«, sagte sie, ihre Stimme aber war sehr klanglos.
»Das freut mich!«, sagte die Frau von der Anmeldung. »Gut, dann werden wir Sie mal in Ihr Zimmer bringen.«
Sie registrierte kaum etwas von ihrer Umgebung, obwohl ihr erzählt wurde, wo sich was befand und war froh, als sie endlich in ihrem Zweibettzimmer angekommen waren.
Da Sonntag war, waren die meisten Schülerinnen - denn es war eine reine Mädchenschule - nach Hause gefahren.
»Ihr Vater rief uns heute Vormittag an«, begann die Frau, »er wollte sicher gehen, dass Sie auch wirklich gut ankommen und sich gut einleben. Da er Sie nicht selbst bringen konnte, bat er mich, ihn später zu benachrichtigen, wenn wir hier fertig sind.« Lydia lächelte und nickte sie an, sie hoffte zumindest, dass sie lächelte. Es fühlte sich recht merkwürdig an. »Wollen Sie, dass ich ihm etwas ausrichte?«
Sie dachte nach.
»Nein, alles gut. Haben Sie vielen Dank!« Lydia versuchte, so nett wie möglich zu sein, denn sie würde die nächsten Jahre hier verbringen.
»Brauchen Sie noch etwas?«
»Nein, ich hab alles. Ich würde gerne meine Sachen auspacken und mich etwas hinlegen, wenn ich darf?«, sagte Lydia.
»Gut! Wenn Sie noch was benötigen oder Ihnen etwas auf dem Herzen liegt, sagen Sie Bescheid. Hier noch ein Ordner über das Internat. Mit allen Regeln, der Hausordnung, Speiseplänen, Stundenplänen und einer Auflistung der Lehrer, die hier unterrichten.«
Sie nickte, nahm es an sich und bedankte sich. Die Tür schloss sich und sie war wieder alleine. Sie inspizierte ihr Zimmer, entdeckte das eigene Badezimmer mit Badewanne und Dusche und schaute noch einmal nach, wie ihre Mitbewohnerin hieß: Julie Schmoll.
Die Sachen legte sie ordentlich in den Kleiderschrank und seufzte, als sie den Geruch wahrnahm, der an ihnen haftete. Er erinnerte sie an das Weichmittel, welches sie einst mit Steve zusammen ausgesucht hatte und seit vielen Jahren benutzten. Es roch nach zu Hause, aber sie wusste, dass es bald verfliegen und sich ein neuer Geruch in den Vordergrund drängen würde.
Ihr Bett war direkt neben der Tür, während ihre Mitbewohnerin am Fenster schlief. Dort standen zwei Pflanzen und ein paar Figuren. Auf dem Nachttisch von ihr waren Bilder - sicher von ihrer Familie und ihren Freunden - dazu noch ein Wecker.
In der Mitte des Raumes befand sich ein Tisch, auf dem eine Blume ragte. Sogar zwei Computertische, mit PC, gab es.
Lydia setzte sich auf ihr Bett und legte den Ordner vor sich.
Sie las ihn durch. Einige Regeln klangen absurd, andere waren durchaus nachvollziehbar.
So durfte man während des Unterrichts nicht rauchen, Kaugummi kauen oder essen. Aber trinken war erlaubt.
Alkohol war verboten und geraucht werden durfte nur auf dem Hof, in der Raucherecke. Samstags war Besuchertag: von 10 bis 18 Uhr. Unter der Woche war um 22 Uhr für die Größeren Bettruhe, die Kleinen mussten zwischen 20 und 21 Uhr das Licht ausmachen. Sie waren selbst für ihr Aufstehen verantwortlich, wer zu spät zum Unterricht erschien, wurde mit Nachsitzen und Ähnlichem bestraft. Spätestens um 20 Uhr musste man aber im Internat sein. Wenn man das Anwesen verlassen wollte, dann nur mit Erlaubnis. Ganz schön viel auf einmal und noch mehr stand drin.
Insgesamt lebten 120 Schülerinnen (auf 8 Klassen verteilt - von der Fünften bis zur Zwölften) unter einem Dach.
Lydia nahm sich nun ihren Stundenplan vor. Er war so, wie sie ihn in ihrer alten Schule auch gehabt hatte. Sie brauchte keine weiteren Prüfungen mehr absolvieren, erst wenn sie ihren Abschluss machen würde. Sie konnte schließlich ihre Fächer für das kommende Schuljahr bestimmen:
Mathe, Englisch und Deutsch waren Pflicht - aber eins davon durfte sie als Nebenfach wählen. Sie entschied sich für Mathe.
Dann kreuzte sie noch die an, die sie als Hauptfach haben wollte: Literatur, Geschichte, Kunst, Musik und Französisch.
Nebenfächer: Astrologie, Geographie, Sozialkunde,
Wirtschaftslehre, Hauswirtschaft und Sport - wobei sie bei Sport noch einmal wählen konnte und sich für Krafttraining entschied.
Sie suchte sich absichtlich so viel aus. Sie wusste, dass sie sich dadurch vielleicht zur Außenseiterin katapultieren würde, doch sie war ja hier, um zu lernen. Sie schrieb sich außerdem für zwei Aktivitäten ein: Bücherclub und Journalismus in der hiesigen Zeitung. Das Internat hatte eine Schülerzeitung, die einmal in der Woche erschien.
Sie fand in den Unterlagen noch eine Notiz, die besagte, dass Ihr Vater den Schreibtisch und den Computer bezahlte und er noch alles schicken würde, was in einem Büro nicht fehlen durfte:
Drucker, Scanner, Schreibmaterial und viele andere nützliche Sachen.
Auch eine Pinnwand lag in einem Fach. Ein Foto war dran geheftet, welches sie als dreijähriges Mädchen zeigte. Sie war auf dem Arm von Steve und alle anderen standen mit dabei. Sie nahm das Bild ab und drehte es um: »Ich hab dich immer als meine Tochter gesehen und du wirst es immer für mich bleiben.« Sascha musste all dies schon länger geplant haben!
Lydia setzte sich hin und legte das Foto nieder. Sie saß am Computer und weinte. Unendliche Schmerzen erfüllten ihre Seele und ihr Herz. Einsam und im Stich gelassen. Sie musste sehr lange so gesessen haben, denn sie merkte nicht, wie die Tür aufging und sie jemand an der Schulter berührte.
»Hallo, ist alles in Ordnung?«
»Oh, tut mir leid. Du musst Julie sein.« Sie wischte sich die Tränen weg. Julie nickte. Lydia drehte sich zu ihr und stellte sich vor.
»Ich dachte, du würdest erst morgen kommen!«
Lydia zuckte mit den Schultern und sagte, dass es nicht anders ging.
»Hat man dich schon umher geführt?«
»Ja, sehr schön hier. Ein großes Anwesen. Entschuldige, ich war noch nie in einem Internat, ist alles etwas neu für mich«, erklärte sie.
»Ja, das war es für mich auch, als ich das erste Mal hier war. Ich kam gerade in die 5. Klasse.«
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