Wenn Austädter die Aurelds erblickten, verbeugten sie sich oder nickten respektvoll. Staunen, Getuschel, verstohlene Blicke. Saoana wusste, dass die Aufregung größtenteils ihrem Vater galt. Gelegentlich lächelte Fürst Tiogan den Anwohnern zu und sprach ein paar Worte mit dem Schmied, dem Metzger, dem Kürschner. Er tat es nicht, weil er das Volk liebte. Präsenz zeigen, nannte er es. Er wollte den Austädtern zu verstehen geben, dass er für sie da war, immer da sein würde. Das erzählte er Saoana gern bei Abendbrot und Kerzenschein.
Als sie sich einer Brücke näherten, die über den Grisos führte, sagte Tiogan: „Eine Taube ist heute früh angekommen. Hat einen Brief aus Rygmoor gebracht.“
„Was stand in dem Brief?“, fragte Saoana. „Schlechte Kunde?“
„Albin macht sich Sorgen um sein Fürstentum. Ich kann es ihm nicht verübeln. Die Bauern lassen Felder und Dörfer zurück. Wenn sie weiterhin in Scharen fliehen, wird Albins gesamte Ernte verkommen. Er befürchtet, dass die Angst vor den Grauen sein Fürstentum in den Abgrund stürzt.“ Tiogan schmunzelte.
„Und wenn es wahr ist?“, fragte Saoana. „Es steht ja außer Frage, dass Graue gesichtet wurden.“
Tiogan schnaubte und sagte: „Außer Frage? Ich weiß nicht, was Albins Späher gesehen haben wollen, Graue gibt es jedenfalls nicht; und die angebliche Sichtung war vor einem Monat, seitdem ist nichts geschehen. Wie dem auch sei, im Brief stand nichts Näheres. Nur eines noch, Fürst Albin wird Willet verlassen und nach Austadt kommen.“
„Fürst Rygmoor kommt? Warum?“
„Nun, mein sechzigster Namenstag ist nächsten Monat. Ich habe ihn eingeladen, und es gibt da noch etwas, worüber wir reden müssen. Er wird seinen Sohn mitbringen.“
„Owin? Das bedeutet …“ Saoana verstummte. Vor Jahren hatte ihr Vater dem Fürsten Rygmoors ein Versprechen gegeben. Saoana hatte es verdrängt, nicht daran denken wollen. Wenn ihre Eltern von der Heirat sprachen, hörte Saoana kaum zu, nickte nur. Und doch stellte sie immer wieder dieselbe Frage, auch wenn sie die Antwort kannte. „Muss ich Owin wirklich heiraten?“
Tiogan sagte: „Fang nicht schon wieder damit an. Es wird Zeit, dass du deiner Pflicht nachkommst. Wir haben das lange genug aufgeschoben. Du bist schon einundzwanzig. Als ich deine Mutter geehelicht habe, war sie fünfzehn. Und du kennst Owin doch, oder nicht?“
„Ich habe ihn seit dreizehn Jahren nicht gesehen, wie kann ich ihn da kennen?“
„Du wirst ihn heiraten, das habe ich Albin nach dem Krieg geschworen. Haben im Dreck gelegen, Echsen geköpft und gemeinsam schwere Zeiten überstanden. Der Mann ist mir ein wahrer Freund, das weißt du doch. Und du weißt, dass ich ihm versprochen habe, unsere Häuser zu verbinden.“ Seine Stimme wurde von Satz zu Satz lauter. Saoana kannte es nicht anders. Er schrie sie immer an, wenn es um Heirat ging. „Owin ist ein kluger und gesunder Mann. Du hast früher deine Spiele mit ihm gespielt, du wirst künftig deine Spiele mit ihm spielen. Lächle, sieh gut aus, schenk ihm einen Sohn und mir einen Enkel, das ist deine Pflicht als meine Tochter. Das hat nichts mit Gefühlen zu tun.“
Saoana blickte auf die Pflastersteine der Stadt, lauschte dem Klappern der Hufe und dem Treiben auf der Straße. Metall klirrte in den Schmieden, Marktschreier priesen Waren an, Kinder lachten in einer Seitenstraße. Die Geräusche erinnerten Saoana an ihre Kindheit. An das Spielen in den Gassen zwischen den Steinhäusern. Ihr Vater hatte Saoana nie daran gehindert, mit den Kindern des einfachen Volks auf dem Markt Verstecken zu spielen. Die Austädter waren stets nett zu ihr gewesen, hatten ihr Brot und Kekse gegeben, sie behandelt, als wäre sie ein gewöhnliches Mädchen. Sie hatte damals viele Freunde gehabt und die Tage waren von Gelächter erfüllt. Sogar Owin war unter ihnen gewesen, lachte und tobte mit Saoana, während ihre Väter Blut vergossen. Bis der Glaubenskrieg dem ein Ende bereitete.
Als Saoana sieben Jahre alt gewesen war, ging der Krieg verloren, und ihr Vater hatte sich verändert. Blutend und humpelnd war er aus dem Norden heimgekehrt. Auf seinem Pferd hatte eine Leiche gelegen. Blutige Lumpen verdeckten den Körper. Seitdem begleiteten Leibwächter Saoana bei ihren Ausflügen, verfolgten sie auf Schritt und Tritt. Saoana durfte nicht mehr allein ausreiten, ohne bewaffnete Begleitung keinen Fuß vor die Burg setzen. Sie verspürte bei ihren Ausflügen keinen Frohsinn, sah nur die Leibwächter, die ihr folgten, sie beäugten.
Saoanas unbeschwerte Kindheitstage waren zu den einzigen Erinnerungen geworden, die sie lächeln ließen, immer wenn sie durch Austadt ritt. Owin zu heiraten, würde bedeuten, in Rygmoor leben zu müssen; und Saoana befürchtete, dass ihre wohltuenden Erinnerungen in der Fremde verblassen würden, bis sie schließlich vollends verschwänden.
Soldaten bewachten den einzigen Weg, der den grasbewachsenen Hügel hinaufführte, auf dem die Burg der Aurelds thronte. Eine vier Meter hohe Mauer umrahmte den Rest des Hügels, sorgte für Schutz und Abgeschiedenheit.
Während sie zur Burg hinaufritten, dachte Saoana an die gemeinsamen Ausflüge mit ihrem Vater. Bevor ihm das Reiten zunehmend Hüftschmerzen bereitet hatte, war er oft mit ihr ausgeritten, sogar bis zu den kleinen Siedlungen, die mehrere Wegstunden von Austadt entfernt lagen. Seit einigen Jahren stieg Tiogan nur noch in den Sattel, wenn er den Wunsch verspürte, seinen Untergebenen vom Rücken eines Rosses aus zuzuwinken. Saoana kümmerte das wenig. Sie genoss die frische Luft und die Stimmen des Volkes bei jeder Gelegenheit, blendete die schlecht gelaunten Leibgarden aus; und im Laufe der Jahre hatte Saoana alle Wälder und Felder beritten, jede Gasse kennengelernt. Sie wollte sich nicht vorstellen, ihre Heimat zu verlassen. Nicht wegen eines Mannes, den sie das letzte Mal gesehen hatte, als er mit Stöcken spielte.
Saoana schlenderte über die Burgterrasse und genoss die Sonnenstrahlen. Juana blätterte durch ein dickes Buch, das sich mit der Historie der großen Adelshäuser Vernlands befasste. Sie sagte: „Ich könnte mir das nie merken.“ Juana war Saoanas Zofe und beste Freundin.
Saoana lehnte sich gegen das Geländer der Terrasse. Der Garten der Burg erstreckte sich unter ihr. Haselnusssträucher, Lavendel, ein Springbrunnen. Saoanas Mutter, Fürstin Fernora, hatte den Garten anlegen lassen, um etwas Farbe in die Burg zu bringen. Juana fragte: „Welches Fürstentum ist das?“ Sie ging lächelnd auf Saoana zu, drückte ihr das Buch in die Hand und deutete auf blutrote Wellen vor blauem Grund.
„Das ist das Wappen Fürst Ubars. Er ist der Herrscher über die Dorrküste“, sagte Saoana. Sie hatte die Wappen auswendig lernen müssen, dazu wurde sie von ihrem Vater gezwungen. Stets betonte er, wie wichtig das sei. Eine pflichtbewusste Adelige müsse befreundete Häuser kennen.
„Und hier ist die grüne Linde auf weißem Grund“, sagte Juana. Auf einer Landkarte war das Wappen Fürst Rygmoors eingezeichnet. „Das Haus deines Gemahls.“
Saoana hatte ihr von dem Gespräch mit Tiogan erzählt. Nun musste sie sich wieder anhören, wie sehr Juana das Hochzeitsfest herbeisehnte. Möglichst prunkvoll solle es sein. Mit großen Kutschen, weißen Tauben und innigen Küssen. Saoanas Bündnis mit Owin war etwas, über das Juana sich freute, wie es nur eine beste Freundin konnte. Mit großen Augen, strahlendem Lächeln und einem Hauch von Neid. Saoana konnte es ihr nicht verübeln. Juana war unscheinbar. Ihre Figur glich einem Grashalm. Dunkelblonde Haare umrahmten ihr schmales Gesicht. Sie war eine bescheidene Frau, die stets hoffte, dass etwas vom Glanze der Aurelds auf sie abfärbte. Nachdem Juana ihre Eltern verloren hatte, war sie in die Burg gezogen und für Saoana dagewesen. Sie konnte mit Juana über alles reden. Kleider, Frisuren, Beschwerden während der Monatsblutungen. Saoana fragte sich, ob Juana mit ihr nach Rygmoor käme, ob Tiogan es erlauben würde. Saoana brauchte keine neuen Zofen, nur die eine. „Wer denkt sich denn sowas aus?“, fragte Juana und verzog das Gesicht.
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