Rorens Schritte klangen ungewöhnlich laut, als er zu dem Weg ging, der nach Gerwind führte. Rauch hing noch immer über dem Dorf, aus dem die Grauen kommen würden. Roren wartete auf eine Bewegung, auf Lichter oder Stimmen. Lange stand er da und erwartete die Ankunft der Grauen. Er sah nur Bäume und Schatten und das Funkeln der Sterne. Wind strich über seine Haut und trug die Düfte von Blumen und Gräsern zu ihm, die Gerüche des Sommers. Sie wirkten beruhigend. Roren lauschte dem Rascheln der Blätter; und als der Wind abflaute, raschelten die Blätter weiter und Äste knackten. Roren drehte sich um. Hinter ihm stand jemand.
Das Wesen war einen Kopf größer als er. Roren hörte, wie es atmete. Luft strömte aus den Nüstern der flachen Schnauze. Schwarze Schuppen bedeckten den Körper des Fremden. Sie machten ihn fast eins mit der Finsternis. Wären da nicht der Glanz seines Kettenhemdes und die Augen, die Roren neugierig musterten. Die Pupillen waren schwarze Schlitze inmitten von Gold. Die Anspannung fiel von Roren ab. Ein Etarianer stand vor ihm, sie waren endlich gekommen. „Bin ich froh, euch zu sehen“, sagte Roren. „Ich dachte schon, ihr würdet nie kommen, um uns zu helfen. Und ich weiß nicht, was heute Nacht noch passiert wäre. Die Grauen sind nah. Sag, gibt es sie denn? Weißt du das? Warum seid ihr sonst hier?“
Die Echse sagte nichts. Mehrere Etarianer schlichen durch den Wald, betrachteten die Hütten von Seros.
„Eine Schande, dass ihr nicht heute Mittag eingetroffen seid“, sagte Roren. „Dann würde unser Ältester noch leben und die meisten unserer Männer wären noch da. Sind alle abgehauen.“ Die goldenen Augen des Etarianers verengten sich. Roren sagte: „Keine Sorge, sie haben Karren und Kinder dabei. Weit können sie nicht gekommen sein. Ich bin sicher, wir holen sie schnell ein. Die Männer werden euch im Kampf gegen die Grauen unterstützen, darauf könnt ihr euch verlassen.“
Der schwarze Etarianer sagte mit rauer und kehliger Stimme: „Wir sind nicht hier, um euch zu retten.“
„Was?“ Stahl blitzte auf. Ein Schwert raste auf Rorens Gesicht zu. Reflexartig trat er einen Schritt zurück und hob abwehrend den Arm. Die Klinge fuhr durch Haut, Muskeln und Knochen. Warme Flüssigkeit sprudelte auf Rorens Gesicht, brannte in den Augen. Seine rechte Hand hing in einem merkwürdigen Winkel vom Handgelenk. Roren versuchte, die Finger zu bewegen. Nichts geschah. Er wollte weglaufen, doch ihm war schwindelig.
Erneut fuhr das Schwert auf ihn nieder, schnitt durch Fleisch und Knochen. Etwas fiel zu Boden. Roren senkte den Blick. Eine Hand lag vor ihm. Wie ein Insekt lag sie da, fremdartig und ekelerregend. Blut strömte aus dem Stumpf, schimmerte im Mondlicht. Roren spürte keine Schmerzen, und doch schrie er bei dem Anblick, bis ihn jegliche Kraft verließ und er verstummte. Seine Beine gaben nach und er ging auf die Knie. Er wollte den Etarianer fragen, wessen Hand das sei, doch das Sprechen erschien zu anstrengend.
Jemand rief etwas, die schwarze Echse grinste und wandte sich wortlos ab. Die Nacht wurde dunkler. Roren hörte das Rascheln der Blätter nicht mehr, alle Geräusche klangen weit entfernt und dumpf. Weitere Etarianer traten aus dem Wald. Sie trugen Fackeln in den Händen und näherten sich dem Dorf. Dann stoben Funken in den Nachthimmel.
Saoana saß auf einem Schimmel und ritt an der Seite ihres Vaters durch ein Waldstück. Die Leibgarde folgte ihnen. Fünf Mann in schwerer Rüstung, die auf Hengsten stumm die Umgebung beobachteten. Ein Pferd schnaubte, Grillen zirpten im Dickicht.
„Wir hätten die Echsen abschlachten sollen“, sagte Tiogan. Er war ein dünner, großer Mann. Ein grauer Bart umrahmte sein Gesicht, sein Haupthaar begann sich zu lichten. Er war aufgebracht, seit Tagen schon. Saoana fühlte sich unwohl, wenn er sich über die Etarianer aufregte. Ihr Bauch grummelte dann und sie traute sich nicht, etwas zu sagen, wagte es nicht, ihn zu unterbrechen. Tiogan sagte: „Ohne ihre Verbote hätten wir noch ein Heer, das die Dörfer beschützen könnte. Da würden die Bauern nicht fliehen, nur weil sie glauben, Graue überfielen sie. Graue, welch Schwachsinn. Ich sage dir, wer die Dörfer angreift. Barbaren aus den Bergen, die leichte Beute machen wollen. Das ist alles. Der König hätte sich darum gekümmert, bevor es zum Problem geworden wäre. Doch jetzt fürchten sich die Bauern, weil sie Altweibergeschichten über Menschenfresser glauben. Als ob wir nicht genug Sorgen hätten.“ Er schüttelte mit dem Kopf. „Für all das sind nur die Echsen verantwortlich, niemand sonst.“
Tiogan war der Herrscher von Aureld, eines Fürstentums im Herzen von Vernland. Vor vierzehn Jahren hatte er gegen die Echsen gekämpft und diese Zeit nie vergessen. Manchmal schwärmte er davon, wie er schwitzend im Wüstensand gestanden und Seite an Seite mit den anderen Fürsten Blut vergossen hatte. Damals, als es noch einen König gab, für den sie gestorben wären. Seitdem nannte er die Fürsten Brüder und blickte oft verträumt gen Norden.
Als Saoana mit ihrem Vater den halbdunklen Wald hinter sich ließ und vom Sonnenlicht geblendet wurde, fragte sie: „Was willst du gegen die Angriffe unternehmen?“ Sie fuhr sich durch ihr rotes Haar, das in ihrem Gesicht klebte. Schweißflecken breiteten sich unter ihren Achseln aus, verdunkelten das blassblaue Kleid. Saoanas sommersprossige Arme waren gerötet und schmerzten. Ein Leiden, das alljährlich wiederkehrte, immer wenn der Sommer anbrach.
Tiogan trug ein dunkelblaues Gewand aus Brokat und Schweißperlen rannen über seine Stirn. Er schnaufte, wirkte außer Atem. „Was ich dagegen tue? Nichts. Solche Probleme lösen sich von selbst. Die Barbaren plündern, nehmen sich, was sie brauchen, dann verschwinden sie wieder in das Loch, aus dem sie gekrochen sind. Es ist nicht das erste Mal. Sie sind lästig, aber zu einer ernstzunehmenden Bedrohung werden sie nie.“ Er reckte sich auf seinem Sattel. Das Leder knirschte. „Das Gerede über Graue bereitet mir wesentlich mehr Sorgen. Wenn die Bauern weiter diese Mär verbreiten, gerät noch ganz Vernland in Panik.“
Gemächlich ritten sie weiter. Getreidefelder wogten im Wind wie goldene Meere. Einige Bauern arbeiteten inmitten der Ähren. Es war Erntezeit. Unter blauem Himmel schwangen sie Sensen und luden Getreide in Karren. Tiogan beobachtete die Arbeiten und nickte bei jeder neuen Fuhre. „Wieder ein gutes Jahr, dem Großen Richter sei Dank. Wir werden jeden Halm brauchen“, sagte er.
Ein Bauer streckte sich. Getreide hing in seinen Haaren. Er hustete und wischte sich Schweiß von der Stirn. Ein anderer musterte den Fürsten, als wäre er ein fremdartiges Wesen. Als dem Bauern klarwurde, wer vor ihm stand, verbeugte er sich. „Sollen arbeiten, nicht glotzen“, sagte Tiogan. „Viel Zeit bleibt nicht mehr.“
„Viel Zeit? Was meinst du damit? Was hast du vor?“, fragte Saoana.
„Mach dir keine Gedanken.“ Er sah sie nicht an. „Lass uns zur Burg reiten, diese Hitze ertrag ich nicht länger.“
Sie ritten durch das Südviertel Austadts. Steinerne Häuser, die für die Stadt bezeichnend waren, reihten sich links und rechts die gepflasterte Straße entlang und verliehen der Stadt einen kargen Charakter. Eine graue Insel inmitten eines Ozeans aus Getreide. Ein Fluss, benannt nach Grisos, dem ersten Fürsten Aurelds, verlief durch die Stadt wie ein blaues Band, teilte sie in Nord und Süd. An diesem Nachmittag waren die Märkte und Gassen des Südviertels überfüllt. Männer feilschten mit Händlern um die Preise von Kartoffeln, Brot und Kleidung. Frauen unterhielten sich miteinander, lachten und tratschten. In der Ferne ragte der spitz zulaufende Turm des Richterheiligtums in den Himmel. Das Heiligtum war einst ein Ort des Glaubens und der Gemeinschaft, bevor die Etarianer es in ein Relikt der Vergangenheit verwandelt hatten.
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