Ich liebte ihn nach wie vor sehr. Kam er abends nicht wie gewohnt nach Hause, ging ich auf die Suche nach ihm. Meistens fand ich ihn volltrunken in irgendeiner Kneipe, unfähig einen Schritt alleine zu gehen. Gemeinsam aber schafften wir es immer wieder, heil nach Hause zu kommen. Obwohl ich sonst keinen Schritt alleine außer Haus gehen durfte, hatte Mama hierbei keine Einwände. Im Gegenteil, oft sagte sie: „Geh Papa suchen und bring ihn nach Hause, auf dich hört er wenigstens.“ Mama hatte sich, wie ich in späteren Jahren erfuhr, zu dieser Zeit schon lange von Papaabgewandt. Sie lebten nicht mehr miteinander, sondern nebeneinander.
Wieder einmal musste ich losziehen, um Papa zu suchen. Er arbeitete seit Tagen in einem etwa zwei Kilometer entfernten Ort. Da ich ihn in seiner angestammten Kneipe nicht fand, lief ich bis zum Ende unseres Dorfes. Die Straße zu jenem besagten, nächsten Ort führte durch einen Wald. Es machte mir Angst, alleine, in stockdunkler Nacht dort durchzulaufen. Somit blieb ich am Dorfrand stehen und rief mehrmals lautstark in den Wald „Papa, Papa“ hinein. Doch niemand gab mir Antwort, nichts rührte sich. Enttäuscht, ihn nicht gefunden zu haben, begab ich mich wieder auf den Heimweg. Am Ortsrand befand sich eine Baugrube, die ich auf dem Hinweg nicht weiter beachtet hatte. Doch als ich jetzt zurücklief, sah ich, dass dort ein Fahrrad lag. Bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass es Papas Fahrrad war. Und, oh Gott! Auch Papa lag da. Ich dachte im ersten Moment, er sei tot. Er lag bäuchlings und volltrunken auf der vom Regen aufgeweichten Erde. Sein Gesicht lag zur Hälfte im Schlamm. Ich drehte ihn auf den Rücken, wobei er ein paar gurgelnde Laute von sich gab. Er lebte also noch, Gott sei Dank!
Da ich ihn nicht mehr auf die Beine stellen konnte, entschloss ich mich, unseren kleinen Leiterwagen von zu Hause zu holen, um ihn damit heimzukarren. Ich zerrte Papa aus dem Schlammloch, legte ihn auf die Seite und versuchte, ihm zu erklären, dass ich gleich wiederkommen würde, um ihn zu holen. Schnell lief ich nach Hause und schnappte mir den Leiterwagen. Hastig zog ich die hintere Quersprosse, die die Leiterteile zusammenhielt, heraus. So müsste ich Papa transportieren können, dachte ich und lief mit meinem Leiterwägelchen wieder los.
Obwohl Papa sehr schlank war, war es für mich verdammt schwer, ihn in den fahrbaren Untersatz zu zerren. Kaum, dass ich ihn etwas hochgezogen hatte, sackte er wieder in sich zusammen. Endlich hatte ich es geschafft, ihn zumindest mit dem Oberkörper im Wägelchen zu haben. Die Füße hinter uns her schleifend, da sein Körper zu lang für das Gefährt war, zog ich ihn nach Hause. Zu Hause angekommen, bat ich Mama nach draußen, um mir zu helfen, Papa nach drinnen zu bringen. Als sie jedoch sah, wie schmutzig und volltrunken er war, schrie sie: „Hättest du das Schwein doch im Dreck liegen und verrecken lassen, ich helfe dir nicht! Außerdem, nach drinnen kommt mir dieses Dreckstück erst recht nicht!“ sagte es, drehte sich um und ging zurück ins Haus.
„Nein“, dachte ich, „ich lasse Papa nicht alleine hier draußen.“ Mitsamt dem Leiterwagen karrte ich ihn in seine Werkstatt. „Dort ist es wenigstens nicht so kalt wie im Freien“, dachte ich mir. Ich holte mir aus dem Haus eine Decke und wollte neben Papa wachen, doch schon war Mama zur Stelle und zog mich ziemlich unsanft aus der Werkstatt. Mit lautem Knall warf sie die Tür hinter sich zu und drehte mit den Worten: „Der kann hier drinnen seinen Rausch ausschlafen, wozu er dich nicht braucht“, den Schlüssel im Schloss herum, zog ihn ab, und steckte ihn in ihre Schürzentasche. „Und du“, sagte sie zu mir, „gehst nun schleunigst zu Bett.“
Aus Angst um Papa konnte ich jedoch nicht schlafen. Gegen Morgen überwogen meine Sorgen um ihn und ich schlich mich aus dem Haus, hinüber zur Werkstatt. „Papa, Papa“, rief ich, als ich vor der verschlossenen Tür stand. Von drinnen hörte ich Papa sagen: „Mein Mädel, lass gut sein. Geh zu Bett, mir geht es schon wieder gut!“ Aufatmend schlich ich ins Haus zurück. Wieder im Bett liegend, dankte ich Gott, dass alles, wie schon so oft, doch mal wieder gut ausgegangen war.
Ein frühzeitiger, strenger Winter mit reichlich Schnee hatte eingesetzt. Für uns Kinder war die Freude groß. Endlich ging es nach dem langweiligen Herbst wieder mit Schlittenfahren und Schlittschuhlaufen los. Für mich sollte dieser Winter jedoch wenig Erfreuliches bringen. Nach einem fröhlichen Nachmittag auf dem Schlittenberg kam ich steif gefroren wie ein Brett nach Hause. Hose und Jacke standen durch die gefrorene Feuchtigkeit von alleine. Gott sei Dank! - Mama war nirgends zu sehen. Schnell schlüpfte ich zu Papa in die warme Werkstatt. Als er meinen robotermäßigen Gang sah, fing er lauthals an zu lachen und sagte: „Du bist ja ein richtiger Eisklumpen! Komm, zieh dich aus, ich hole dir trockene Kleidung, bevor Mama kommt.“ Zu spät! Die Tür ging auf und Mama stand vor uns. „Was ist denn hier los?“ Und dann: „Ulrike, wie siehst du denn aus? Sieh ganz schnell zu, dass du ins Haus kommst“, fauchte sie mich an. Zu Papa gewandt sagte sie in einem sehr barschen Tonfall: „Du brauchst weder darüber zu lachen, noch brauchst du Ulrike in Schutz zu nehmen. Ich hatte ihr ausdrücklich untersagt, sich nass und schmutzig zu machen, aber sie kann ja einfach nicht gehorchen.“ Ihr Gezeter beendete sie mit einem: „In Zukunft werde ich dafür sorgen, dass sie so nicht mehr nach Hause kommt“.
Frierend schälte ich mich in unserer Küche aus den steif gefrorenen Klamotten. Als Mama meine blau gefrorenen Beine samt den Kleidern sah, begann sie wieder, mit mir zu schimpfen. „Du gehst heute ohne Essen zu Bett, damit du lernst, was Gehorchen heißt“, keifte sie mich an. „Mama, bitte, ich habe aber noch Hunger! Ich möchte nur noch schnell etwas essen und trinken. In Zukunft werde ich auch ganz folgsam sein. Bestimmt!“, bettelte ich sie an. Doch Mama ließ sich nicht erweichen. „Du gehst jetzt ins Bett und zwar schnell, sonst setzt es noch etwas“, waren ihre Worte. „Mama, bitte, ich möchte nur eine Tasse warmen Kakao, dann geh ich auch gleich zu Bett.“
„Nein! Wer nicht folgt, geht hungrig zu Bett, oder soll ich die Peitsche holen?“ Warum nur war sie immer so streng? Heiß schossen mir die Tränen in die Augen. Gleichzeitig legte sich ein bleiernes Band um meinen Brustkorb und ich kämpfte mit starker Atemnot. Als sie sah, wie schwer ich atmete, forderte sie mich erneut auf: „Schauspielere jetzt bitte nicht und geh zu Bett.“
Ich wollte ihr antworten, doch mir fehlte die Luft dazu. Außerdem wurde mir von jetzt auf gleich übel und schwindelig sowie mein Gesicht schneeweiß. Mama bemerkte, dass mit mir wirklich etwas nicht stimmte. Sie holte Papa aus der Werkstatt, der sofort einen Arzt benachrichtigte. Als jener eintraf, hatten sich meine Lippen durch die immer stärker werdende Atemnot schon bläulich verfärbt. Die Diagnose: Asthma! Eine Cortison- und Beruhigungsspritze brachte mir Erleichterung. Zwei Stunden später war alles vorbei und mir ging es wieder gut. Nach mehreren eingehenden Untersuchungen stand fest, dass keine Bronchial- oder Lungen-Erkrankung dahintersteckte. Die einstige, ständig immer wiederkehrende Bronchitis im Kleinkindalter war seit Längerem ausgeheilt. Kein Arzt fand je heraus, woher diese Bronchialverkrampfungen kamen. Die Anfälle häuften sich zwar, doch nach Einnahme von Medikamenten, die ich immer nur im akuten Fall nehmen musste, klang alles ziemlich schnell wieder ab. Mama war jetzt sehr besorgt um mich. Schimpfe und Prügel gab es von nun an keine mehr.
Als der Winter, den ich durch meine nicht diagnostizierbare Krankheit nur täglich eine halbe Stunde erleben durfte, zu Ende war, schickte man mich zu einer vierwöchigen Kinder- Kur. Dort wurde, da ich in den vier Wochen Kuraufenthalt trotz Sport und sonstiger körperlicher Belastungen keine Anfälle mehr hatte, die Diagnose „psychisch bedingt“ gestellt.
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