Mittlerweile war es Abend geworden. Immer noch lag ich auf meinem Bett und versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Irgendwann hörte ich Papa rufen: „Ulrike, komm essen!“ Zögernd, da ich nicht wusste, ob ich jetzt zu ihnen gehen sollte oder nicht, stand ich auf. Erst als Papa nochmals rief, ging ich dann doch in die Küche zum Abendessen. Jeder Schritt, den ich machte, schmerzte. Mir war in diesem Moment jedoch nicht klar, was mehr weh tat: die vorher erhaltenen Prügel oder meine Seele. Stumm setzte ich mich an den Abendbrottisch. Weder Mama noch Papa sagten ein Wort zu mir. Mein Blick schweifte verstohlen über die beiden Menschen, die ich bis heute als meine Eltern bezeichnet hatte. Mit einem Schlag wurde mir klar, warum ich bei Tante Gerda immer das Gefühl der Liebe und Geborgenheit verspürte. Warum mir jeder Abschied nach ihren Besuchen weh tat. Es war das Blut, das zu Blut zog!
Bei Mama, auch wenn ich längere Zeit keine Schelte und Prügel bekam und sie mich dann ab und an auch mal herzte und küsste, spürte ich immer eine gewisse Kälte. Anders bei Papa, bei ihm spürte ich trotz alledem immer Wärme, Offenheit und Liebe, vor allem, wenn er nicht getrunken hatte. An diesem Abend stand für mich fest: Ich gehe! Ich gehe zu meiner leiblichen Mutter!
Tags darauf lief ich zum Bahnhof, um mich nach den Abfahrtszeiten sowie den Fahrkarten-Preisen zu erkundigen. Sorgfältig schrieb ich mir alle Zeiten sowie Umsteigemöglichkeiten auf einen Zettel auf. Gott sei Dank besaß ich etwas gespartes Geld, um mir eine Fahrkarte kaufen zu können. Jedes Jahr pflückte ich mit Mama eimerweise Heidelbeeren, die wir dann an die hiesige Marktfrau verkauften. Was ich hierbei verdiente, durfte ich auch behalten. Mein größter Wunsch war, mir Rollschuhe zu kaufen. Also sparte ich eisern jedes Zehnpfennigstück dafür. Leider musste ich nun auf diese noch etwas länger sparen, aber dafür fuhr ich ja zu meiner Mutter. Da ich noch nie alleine mit einem Zug unterwegs gewesen war, beschlich mich des Nachts zuvor große Angst, die lange Zugfahrt nicht zu schaffen.
Die Schule hatte Herbstferien und Mama sowie Papa waren arbeiten, so konnte ich meinen Plan ungestört durchführen. Notdürftig packte ich einige persönliche Sachen zusammen und lief los zum Bahnhof. Überglücklich landete ich Stunden später bei meiner Mutter. Jene nahm mich weinend vor Rührung und Freude in die Arme. Mutter setzte sich sofort telefonisch mit dem Jugendamt auseinander und gab dem Amt alles, was ich erzählt hatte, weiter. Schon eine knappe Stunde später stand ein Mitarbeiter des Jugendamtes vor Mutters Tür. Mit versteinerter Miene hörte er sich an, was ich ihm erzählte. Zur Bestätigung zeigte ich ihm noch meine Prügelstellen, die mittlerweile in den Farben eines Regenbogens auf meinem Rücken schillerten.
Jener Jugendamt-Mensch meinte daraufhin jedoch: „Wahrscheinlich waren diese Prügel nicht ganz unberechtigt. Ihr beide, deine Mutter sowie du, seid uns hinlänglich bekannt.“ Barsch sagte er dann noch zu mir: „Entweder du gehst zurück zu deinen Adoptiveltern oder du kommst in ein Schwererziehbaren-Heim. In diesem“, blaffte er mich an, „herrschen noch viel strengere Regeln.“ Außerdem erklärte er mir: „Bei deiner leiblichen Mutter kannst und darfst du nicht bleiben. Das schreibt das Gesetz nach einer Adoption so vor.“ Zu meiner Mutter gewandt meinte er: „Und sie hätten sich das mal früher überlegen sollen, wem sie ihr Kind anvertrauen. Sie hatten alles selbst in der Hand. Jetzt jedoch ist es zu spät. Sie haben keinerlei Rechte, über das Leben sowie den Aufenthalt ihrer Tochter zu bestimmen. Falls sie sich nicht an die Gesetze halten, leiten wir strafrechtliche Maßnahmen gegen sie ein. Zudem machen sie sich schon mal mit dem Gedanken vertraut, ihre Tochter heute zum letzten Mal gesehen zu haben. Eine Adoption“, setzte er noch barsch hinzu, „ist unwiderruflich und endgültig.“
Über die Worte jenes Jugendamt-Mitarbeiters geschockt, waren wir beide unfähig, etwas darauf zu antworten. „Lieber, lieber Gott“, dachte ich, „warum? Warum darf ich alles, was mir lieb ist, nicht behalten?“ Unendliche Wut stieg in mir auf und ich maulte den Jugendamt-Menschen ohne darüber nachzudenken mit den Worten an: „Auch sie haben nicht über mich zu entscheiden. Ich gehe dahin“, trotzte ich, „wohin ich will, und wenn es sein muss eben in ein Heim!“
Entsetzt über meine Reaktion schrie er mich daraufhin an, ich solle die Klappe halten, sonst würde er mich sofort in ein Erziehungsheim einweisen. Mutter, die durch das ganze Szenario nur noch am Heulen war, versuchte, indem sie mich umarmte, mich zu beruhigen. Doch ich war derart aufgewühlt und aufgebracht, dass ich mich ziemlich unwirsch aus ihren Armen löste und sie anschrie: „Hättest du mich nicht einfach hergegeben, wäre alles anders.“
Für den Jugendamt-Menschen war ich durch diesen Auftritt erst recht ein ungezogenes Gör, wie er sagte. Noch am gleichen Tag abends musste ich auf Geheiß des Amtes wieder zurück nach Hause. Gegen zehn Uhr abends kam Mama, die zwischenzeitlich ein Taxi geordert hatte, um mich zurückzuholen. Mutter nahm mich ein letztes Mal in die Arme. Tränenüberströmt sagte sie zu mir: „Mädel, ich habe dich lieb! Der größte Fehler meines Lebens war, dich zur Adoption frei zu geben. Bitte verzeih mir! Gott schütze dich auf deinem weiteren Lebensweg.“
Bei den letzten Worten meiner Mutter riss mich Mama aus deren Arme und schob mich energisch in das auf uns wartende Taxi. Mama versicherte mir bei der Heimfahrt immer wieder, mich zu lieben und nur mein Bestes zu wollen. Ständig umarmte und küsste sie mich. Bittend flehte sie mich an, doch bei ihr zu bleiben. Sie bräuchte mich so sehr und sie könne ohne mich nicht leben. Auch würde sie mich mehr als ihr eigenes Leben lieben. Wortlos hörte ich mir ihr Gejammer sowie ihre Liebesbezeugungen an. Gedanklich fragte ich mich: Ist das alles Wahrheit? Denn die Wirklichkeit hatte nichts mit diesen Worten zu tun. Die sah bis jetzt ganz anders aus.
Zu Hause angekommen, nahm mich Papa wortlos in die Arme. Er drückte mich an sich und vergrub sein Gesicht in meinen Haaren. Ich spürte, dass er weinte. Dies tat mir unendlich weh, denn ich liebte ihn, trotz seiner Alkoholabhängigkeit, nach wie vor sehr. „Bitte weine nicht“, flüsterte ich ihm ins Ohr, „ich bleibe ja bei dir.“
Papa und Mama gaben sich von diesem Tag an sehr, sehr viel Mühe. Es herrschte absolute Ruhe und Harmonie, welches für mich schon fast wieder beängstigend war, da ich dieses noch nie so erlebt hatte. Mama schlug mich nicht mehr, auch ansonsten war sie nicht mehr so streng und zornig. Langsam fing ich an, wieder an ein halbwegs friedliches Leben mit meinen Eltern zu glauben. Nach gut zwei Wochen jedoch wusste ich, warum alles auf einmal so voller Harmonie ablief. Das Jugendamt hatte sich angesagt. Sofort nach meinen Ausbüchsen wurden Mitarbeiter bei meinen Eltern vorstellig und forderten einen Gesprächstermin mit mir. Beauftragte hierfür war Jugendamt-Schwester Magdalena.
Schwester Magdalena war eine christliche Ordensfrau sowie Vorsteherin des Jugendamtes. Sie trug eine bodenlange, dunkelblaue Tracht. Die Haare wurden von einem Häubchen verdeckt, an dem ein fast rückenlanger Schleier befestigt war. Um den Hals trug sie eine grobe, lange Kette, an deren Ende ein großes, bronzefarbenes Kreuz baumelte. Ich kannte diese Schwester aus Zeiten, wo ich noch nicht adoptiert war und sie laut Gesetz einmal im Monat einen Kontrollbesuch bei uns tätigen musste. Sie sollte sich hierbei ein Bild über meine Erziehung sowie meinen Pflegeeltern machen. Ob und in wie weit sie damals in meiner Familie nichts sah oder sehen wollte, ist mir bis heute ein Rätsel.
Magdalena war mir noch nie sehr sympathisch gewesen! Sie hatte schon, als ich noch ein kleines Kind war, immer etwas an mir auszusetzen gehabt und wenn es nur war, dass ich nicht gerade und aufrecht bei Tisch saß. Mehrmals hörte ich unter anderem, wie sie zu Mama sagte: „Die sieht aus wie ihre Mutter. Das Mädchen wird das nämliche, kleine Biest. Erziehen sie sie so streng wie möglich, dass sie nicht in die Fußstapfen der Mutter tritt.“ Damals verstand ich diese Worte noch nicht, doch jetzt wusste ich, was sie mit diesen Sätzen meinte.
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