Warum half Papa mir nicht? Glaubte er mir auch nicht? Dachte auch er, ich hätte dieses doofe Kettchen gestohlen? Warum stand er nicht, wie früher so oft, beschützend hinter mir? Wenn er auch nicht viel gegen Mama hatte ausrichten können, so tat es doch gut, ihn hinter mir zu wissen. Seine Liebe zu spüren. Wo war Papa überhaupt? In der letzten Zeit war er sehr wenig zu Hause gewesen und wenn, dann war er irgendwie anders als sonst. Bei diesen Gedankengängen nahm mich der Schlaf in seine Arme. In dieser Nacht nässte ich das erste Mal mein Bett ein. Morgens bekam ich von Mama zu hören: „Du bist ein großes Schwein, mit sechs Jahren noch ins Bett zu pieseln. Ich werde dies allen Leuten erzählen.“ Was sie dann auch fleißig bei allen Bekannten und Nachbarn tat.
Das Bettnässen bekam ich für lange Zeit nicht in den Griff. So sehr ich mich auch bemühte, es passierte immer und immer wieder. Mama bezeichnete mich jedes Mal als unmögliches, schweinisches Kind. Oft musste ich zur Strafe in meiner Pisse liegen bleiben, damit, wie sie meinte, ich lernte, so etwas nicht mehr zu tun. Ich schämte mich sehr dafür und wurde immer ruhiger und zog mich immer mehr zurück. Oft plagten mich des Nachts Albträume von großen Gewässern. Ich stand dann am Ufer eines großen Wassers und versuchte, auf die andere Seite zu gelangen, doch das Wasser wurde immer breiter und größer. Die gegenüber liegende Uferseite verschwand im Wasser. Zugleich kam ein großer Wasserstrudel auf mich zu und zog mich in die Tiefe. Das Wasser nahm mir die Luft zum Atmen. Ich hatte das Gefühl zu ertrinken und niemand half mir. Schweißgebadet und zitternd vor Angst wachte ich aus diesen Träumen auf. Lieber Gott, betete ich oft beim Zubettgehen, bitte, bitte lass mich diesen Traum nicht mehr träumen, ich will auch ganz brav sein. Doch alles Beten half nichts. Dieser scheußliche und angsteinflößende Traum schlich sich immer und immer wieder in mein Bett. Aus Angst vor diesem Traum weinte ich mich oftmals in den Schlaf.
Die bevorstehende Einschulung machte mir etwas Mut in meinem Leben. Ich freute mich darauf! Vor allen Dingen freute ich mich auf den Kontakt zu anderen Kindern. Doch wider Erwarten wurde das Leben nach der Einschulung für mich noch trostloser, als es eh schon war. Es gab nur noch eines: lernen, lernen und nochmals lernen. Ich sollte besser, schneller und klüger werden als alle anderen Kinder. Konnte oder wollte ich nicht mehr, kam wie immer die Hundepeitsche zum Einsatz. Mittlerweile hatte ich mich schon fast an dieses Folterwerkzeug gewöhnt.
Von meinen Mitschülern wurde ich in den ersten drei Jahren sehr ausgegrenzt. Der Grund hierfür war: Ich wurde von Mama zur Schule gebracht und auch wieder abgeholt. Und dies, obwohl der Schulweg autofrei nur dreihundert Meter von zu Hause entfernt war. Ich durfte nach wie vor keine Freunde mit nach Hause bringen, geschweige denn nach draußen gehen. So blieb ich in den ersten Schuljahren ein ziemlicher Einzelgänger, der so gut wie keine Schulfreunde besaß.
Die Getreideernte war vorüber. Jetzt hieß es, wie jedes Jahr, auf den abgeernteten Getreidefeldern Gänse zu hüten und Getreideähren zu sammeln. Jenes hasste ich wie die Pest! Man lief stundenlang über die hohen Getreidestoppeln, die sich bei jedem Schritt erbarmungslos in die Haut der nackten Füße bohrten. Meine Füße und Beine sahen danach immer aus wie ein Streuselkuchen und brannten wie Feuer.
Die Getreidefelder wurden damals noch mit einfachen Mähwerkzeugen abgemäht, das Getreide dann zu armdicken Bündeln gebunden. Die Bündel stellte man schräg gegeneinander, sodass kleine Kuppeln entstanden. So gestellt, konnte das Getreide samt Stroh gut austrocknen, bevor es nach Hause auf den Dachboden gebracht wurde. Das Sammeln der Getreideähren war damals gang und gäbe. Jeder Kleintierhalter schwärmte nach der Getreideernte aus, um für seine Hühner oder Gänse noch etwas zusätzliches Futter zu sammeln.
Mama, ich und die Gänse zogen also los. Schlick watschelte schnatternd neben mir her. Am Acker angekommen, blieb sie wie immer außen am Rand stehen. Anscheinend piksten auch sie die Strohstoppeln zu arg in ihre gelben Watschelfüße. Außerdem wusste sie genau, dass sie von mir immer wieder Ähren zugeworfen bekam. Der Rest der Herde schnatterte über das leere Feld und sammelte die vereinzelt liegengebliebenen Ähren auf.
Auf die Felder durfte man erst, wenn keine Kuppeln mehr darauf standen, denn sonst kam man in den Verdacht, die Getreidesträuße nicht gesammelt, sondern aus den Kuppeln gestohlen zu haben. Unser Feld war bereits abgeerntet. Auf dem angrenzenden Feld standen die Kuppeln noch. Mama war etliche Meter von mir entfernt, als Schlick sich in die Lüfte erhob und zielsicher auf eine Kuppel im angrenzenden Feld zuflog. Der Landeanflug von Schlick war etwas unbeholfen, sodass durch die heftigen Flügelschläge von ihr eine der Kuppeln zum Einsturz kam. Laut schnatternd sah sie zu mir herüber, was für mich hieß: Komm zu mir, hier kannst du ganz schnell große Bündel sammeln. Flügelschlagend fing sie sofort an, sich von den nun auf dem Boden liegenden Getreideähren ordentlich den Bauch vollzuschlagen. „Na ja, alles, was auf dem Boden liegt“, dachte ich mir „darf ich ja aufsammeln.“ Ich rannte zu Schlick, streichelte und lobte sie für ihre Hilfe.
Schnell hatte ich fünf große dicke Ährensträuße aus den Kuppeln gezogen. Anschließend setzte ich mich an den Rand des Feldes, um auf Mama, die noch sammelte, zu warten. Auf einmal kam Schlick laut schreiend und mit ausgebreiteten Flügeln auf mich zu gerannt. „Was hat sie?“, dachte ich und schon spürte ich eine derbe Hand in meinem Nacken. „Du verstohlenes Etwas, dir werde ich helfen, mein Getreide zu stehlen“, schrie mich eine dunkle, barsche Stimme an. Es war der Bauer, dem das Feld mit den Kuppeln gehörte. Zornig packte er mich an den Schultern und schüttelte mich wie einen leeren Sack hin und her. „Ich werde dir dein Stehlen austreiben“, schrie er und erhob die Hand, um mir eine Ohrfeige zu geben. Ich wollte mich gerade wegdrehen, um seinen Schlag auszuweichen, als er anfing, heftig mit Händen und Füßen um sich schlagen. „Du Mist Vieh, ich dreh dir den Kragen um“, schrie er. Erst jetzt merkte ich, dass Schlick versuchte, mich zu verteidigen. Sie hatte den Bauern mehrfach heftig in die Beine und Arme gebissen.
Gott sei Dank war Schlick eine gute Fliegerin. Sie flog ihn in akrobatischer Weise immer wieder an, um ihn erneut irgendwo beißen zu können. Schlick war so schnell, dass er sie nicht zu fassen bekam. Ich musste bei diesem Schauspiel, trotz meiner Angst, was da jetzt wieder auf mich zukommen würde, lauthals lachen. „Du mit deinem verstohlenen Balg“, herrschte der Bauer Mama, die aufgrund des Geschreis zu mir geeilt war, an. „So eine Taugenichts-Göre in unser Dorf zu holen. Ledige Bälger gehören weggesperrt. Seht zu, dass ihr hier verschwindet. Außerdem werde ich dieses Stehlen dem Jugendamt melden.“ Mama wurde schneeweiß im Gesicht und sagte daraufhin kleinlaut zu dem Bauern: „Hier, nimm die Ähren-Sträuße und lass es gut sein.“ Zu mir gewandt sagte sie: „Komm Ulrike, wir gehen nach Hause!“
„Oh nein“, dachte ich, „was habe ich jetzt wieder getan? Bestimmt bekomme ich deshalb zu Hause wieder Schläge.“ Schlick watschelte auf den Weg nach Hause laut schnatternd neben mir her, als wollte sie sagen: „Keine Angst, ich verteidige dich schon.“ Schläge bekam ich dieses Mal ausnahmsweise nicht.
Papa war zunehmend weniger zu Hause. Er hatte sich in der letzten Zeit sehr verändert. Was war los mit ihm? Liebte er mich nicht mehr? Doch, er liebte mich sehr! Kam aber mit seinem Leben nicht mehr klar und hatte sich dem Alkohol zugewandt. Mein geliebter Papi war ein anderer Mensch geworden. Dies tat mir sehr weh! Trotzdem kämpfte ich mit und für ihn.
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