Warum aber hat Aschenputtel zwei Stiefschwestern und nicht nur eine? Eine ist eitel. Sie wünscht sich schöne Kleider. Die Andere ist raffgierig, sie wünscht sich teuren Schmuck. Beide zusammen ergeben eine Persönlichkeit, die ein frommer und sparsamer Schwabe sich nicht als Schwiegertochter wünschen würde. Würde sich die eitle Tochter nicht auch Schmuck wünschen? Es kommt vermutlich nicht auf die Optik des Schmuckes als vielmehr auf seinen Wert an. Wir kennen dieses Verhalten nach materieller Absicherung durch Schmuck bereits von Marilyn Monroe aus dem Lied » Diamonds are a girl’s best friend «. Schmuck als materielle Absicherung für Frauen mag uns absonderlich vorkommen, in manchen Regionen der Welt ist es bis heute Sitte, eine Braut mit Gold und anderen Preziosen zu beschenken, um sie für den Fall des Todes ihres Mannes oder der Scheidung abzusichern.
Papa bringt Geschenke von einer Geschäftsreise mit? Er ging zu einer Messe. In die Kirche ging er sicherlich nicht, da wäre er auch mit seiner Frau und seinen Töchtern hingegangen. Und nach der Kirche kauft man eher selten Kleider und Schmuck ein. Die Frage, warum er denn seiner Frau nichts mitbringt, übergehen wir jetzt entspannt. Schließlich handelt die Geschichte von Aschenputtel und soll kein Märchen über eine wiederbelebte Liebe unter älteren Erwachsenen sein.
Dass Schmuck und Kleider eitle und geldgierige Töchter beglücken können, wird all jenen als einleuchtend erscheinen, die selbst mit derartigen Töchtern zu tun haben oder hatten. Aber warum um Himmelswillen will Aschenputtel ein Haselnussreis und noch dazu eines, das dem lieben Papa den Hut vom Kopf fegt? Dass es für Väter ärgerlich ist, wenn ihnen beim Spazierengehen oder bei der Gartenarbeit der Hut von einem Zweig vom Kopf gestoßen wird, weiß man, wenn man gerne und häufig Hüte oder Mützen trägt, wie es der Autor dieser Zeilen glatzenbedingt tut. Aber dass Aschenputtel auch noch weiß, dass ihrem Vater genau das passieren wird, obgleich er dies peinlichst zu vermeiden sucht, lässt uns erstaunen. Nicht nur, dass sie weiß, dass ihm der Hut vom Kopf gefegt wird, sie kennt auch noch die Pflanze, die diese Übeltat verüben wird! Wir können uns also fragen, welche Archetypen, welche Symbole sich hinter » Hut « und welche sich hinter » Haselnussstrauch « verbergen, ansonsten müssten wir zugestehen, dass Aschenputtel eine Hexe ist, die in ihrer Kristallkugel auch die Banalitäten sehen kann, die geschehen werden. Und so weit wollen wir in der Interpretation nun wirklich nicht gehen.
Der Hut galt bei den Germanen als Kennzeichen des freien Mannes. Er diente als Standeszeichen für Könige und Fürsten. Das leuchtet insofern ein, als ein Hut den Kopf betont und seinen Träger größer macht. Außerdem tragen in der Mythologie zwielichtige Gestalten wie beispielsweise der Nachtjäger oder die Kobolde Hüte. Zudem ist der Hut ein Mittel, sich unsichtbar zu machen. Diese Bilder wären alle tauglich dazu, zu verstehen, warum Aschenputtel sich wünscht, dass ihrem Vater der Hut vom Kopf gestoßen wird: Er soll kleiner werden, soll von seinem hohen Ross als dominierender Herr im Haus herunterkommen, er soll endlich sichtbar werden und sich nicht hinter seiner Frau verstecken oder aber die Bedrohung durch ihn als unheimliches Geschöpf soll verschwinden, er soll wieder der Mensch werden, der er bei der guten Mutter war. Oder? Habe ich vergessen, was ich anfangs geschrieben habe? Warum kann das nicht alles gleichzeitig richtig sein? Entscheiden Sie selbst, welche Version für Sie stimmig ist!
Warum aber wird der Hut ausgerechnet von einem Haselnussreis herabgestoßen? Die Bedeutung des Haselnussbusches wird schon dadurch deutlich, dass seine frischen Äste den Wünschelrutengängern zum Auffinden von Wasser gedient haben. Wasser symbolisiert Leben, es ist ein mütterliches Element, das auch Verderben bringen kann. Der Haselnussstrauch ist einer der heiligsten Sträucher unserer Vorfahren; getoppt wird er lediglich vom Holunder- und vom Wacholderbusch. Der Schlag der Haselnussgerte sollte Kraft und Gesundheit vermitteln und auch in der Erotik spielt der Haselnussstrauch eine gewaltige Rolle. Gab es im Herbst beispielsweise viele Haselnüsse, so erwartete man im darauffolgenden Jahr viele uneheliche Kinder. Ob die jungen Männer zusammen mit den Mädchen in den Wald geschickt wurden, um Haselnüsse zu sammeln, dabei aber auf dumme Gedanken gekommen sind, darüber wollen wir jetzt nicht nachgrübeln. Ich finde es in einem übertragenen Sinn plausibel, dass der Vater von seinem hohen Ross herabsteigen muss, schließlich liegt sein Hut auf dem Boden und schließlich muss er den Haselnussreis abschneiden. Pferde werden häufig als Archetyp für Vitalität im guten wie im schlechten Sinne gebraucht. » Mit ihm ist der Gaul durchgegangen « heißt, dass jemand seine Beherrschung verloren hat. Auf Gemälden werden oft nackte Menschen dargestellt, die ein Pferd beherrschen oder, vor allem wenn es Frauen sind, sich von ihm tragen lassen.
Vielleicht will uns das Märchen mit dem Herabsteigen vom Pferd, neben dem Abnehmen des Hutes, noch einen weiteren Hinweis geben, nämlich dass der Vater seine dominante Rolle aufgeben soll, um auf diese Weise Aschenputtel Leben (zurück-)bringen zu können. Auch der Wunsch, eine inzestuöse Beziehung zu beenden, könnte hinter diesem Bild stehen, wobei inzestuös nicht zwangsläufig mit sexuell gleichzusetzen wäre. Er steigt ab, schneidet seiner Tochter das Reis und die Folge ist, dass Aschenputtel den lebenden Zweig auf dem Grab der Mutter pflanzt. Unsere Friedhofsverwaltungen wären über dieses Verhalten der trauernden Tochter entsetzt, sollen unsere Gräber doch immer aufgeräumt und ordentlich aussehen.
Doch wir befinden uns ja im Märchen! Es geschieht, was geschehen muss: Aus dem Zweig wird ein mächtiger Busch, ein Baum. Gibt es ein schöneres Symbol des Lebens als Bäume? Sie wurzeln in der Erde, also im Hier und Jetzt, und ihre Äste greifen wie Arme in den Himmel. Genau das passiert auch. Die Wurzeln des Baumes dringen bis zum Sarg der Mutter vor, nähren sich von ihr und verwandeln den Haselstrauch. Ab sofort ist die gute Mutter wieder bei Aschenputtel und kann ihr direkt helfen. Erwähnte die Mutter nicht, dass sie vom Himmel aus ihrem braven Mädchen beistehen werde? Wir halten fest: Der Vater mit dem abgeschnittenen Haselnussreis sorgt dafür, dass Aschenputtel stark wird, indem sie den Zugang zu ihrer guten Mutter wieder findet. Was wundert es dann, dass vom Himmel, also aus den Ästen des Baumes, Kleid und Schuhe herabfallen, die Aschenputtel helfen, sich in eine wunderschöne Frau zu verwandeln. Mir ist nicht bekannt, ob es viele junge Frauen gibt, die unter Bäumen wie Aschenputtel, um Kleider aus Gold und Silber bitten, doch erscheint mir dies eher unwahrscheinlich zu sein. Wahrscheinlicher ist es, dass Aschenputtel die Liebe der guten Mutter in sich wiederfindet und mit ihr die Stärke findet, sich der Attribute ihrer dunklen Schwestern zu bedienen, nämlich sich herauszuputzen, sich schön zu machen und ihren Mitmenschen gegenüber selbstbewusst aufzutreten.
Bevor Aschenputtel ihre liebe Mutter um eine geeignete, den Prinzen beeindruckende Festkleidung bitten kann, muss sich Aschenputtel erst noch gegen die bösen Schwestern und die ebenso üble Mutter durchsetzen. Ihr eitles Ich sagt dem hässlichen Aschenputtel, dass sie unmöglich zu dem Ball gehen könne. Sie müsse dieses und jenes erledigen, um sich die Ehre zu verdienen, an diesem Ereignis teilzunehmen. Die Eitelkeit stellt also dem Aschenputtel den Fuß, nimmt ihr das Selbstbewusstsein. Sie muss sich die Ehre, sich einen Mann zu suchen, erst noch verdienen. Doch wie soll sie es schaffen, die Linsen aus der Asche zu lesen? Und da grätscht uns wieder ein Bild, ein Archetyp, ins Verständnis des Märchens. Linsen stehen ebenso für Fruchtbarkeit wie für das Leben und die Gesundheit. In Persien werden vor dem Nouruzfest Linsen auf einen Teller gegeben, die zu diesem Frühlings- und Neujahresfest zu keimen beginnen, um damit das neue Leben im Jahr anzukündigen.
Читать дальше