Märchen bedienen sich der Archetypen, die in uns vorhanden sind. C.G. Jung hat in ihnen das kollektive Unterbewusstsein erkannt. Auch wenn Archetypen nicht eindeutig sind und einem Wandel unterliegen können, helfen sie uns doch, die Märchen zu verstehen.
Zum Handlungsverlauf können wir uns wieder unseres Alltagsverständnisses bedienen. Welcher Vater, der seine Tochter als schön, brav und liebenswert kennt, ließe es zu, dass diese Tochter so gedemütigt wird wie Aschenputtel? Welcher Vater würde sich nicht wundern, wenn sich diese Tochter, der alles genommen wurde, lediglich einen Haselnussreis als Mitbringsel von einer Reise wünscht? Welche Mutter würde ihren Töchtern das Messer reichen, damit sich diese die Füße verstümmeln? Welcher reiche alte Mann würde seinen Taubenschlag, also eine Hütte, eigenhändig zerhacken, weil er Aschenputtel darin vermutet, anstatt die Tür zu öffnen, um nachzusehen? Die Liste unglaubwürdiger Ereignisse ließe sich auch in diesem Märchen beliebig ergänzen. Wir sind uns einig: So kann es nicht gewesen sein und man müsste schon sehr naiv sein, würde man dieses Märchen nicht wegen etwas Anderem, etwas Verborgenem, lieben. Ich höre jetzt den Einwand, dass es doch nur ein Märchen ist, und Märchen sind eben Märchen und keine realistischen Erzählungen. Realistisch ist Superman auch nicht, obwohl wir manchmal gerne die Fähigkeiten dieses gutaussehenden Mannes hätten, und dennoch versteckt sich nichts hinter der Geschichte dieses Comic-Helden. Doch da stocke ich. Haben wir nicht in Aschenputtel als auch in Superman das gleiche Motiv, das uns die Geschichten attraktiv macht? Etwas, das Sigmund Freud die Wunscherfüllung im Traum nennen würde? Die Wunscherfüllung im Traum ist in den meisten Fällen wirklich nur ein Traum – welcher Mann träumt schon davon, dass er Claudia Schiffer im Traum umarmt und mehr mit ihr anstellt, als über GNTM (Germany’s next Topmodel) zu diskutieren? Es ist eine Gemeinheit, dass wir nicht das träumen, was wir gerne träumen würden, weil wir es im Wachzustand nicht haben können. Die Gemeinheit, dass wir in unseren Träumen nicht unseren verborgendsten Leidenschaften nachgehen können, gilt nicht für Tagträume. Und das tun wir deshalb in Filmen und Romanen reichlich. Wer fühlt sich nicht hin und wieder schwach, hässlich und verkannt und wünscht sich nicht, endlich stark, schön und anerkannt zu sein? Wer wünscht sich nicht hin und wieder so stark und übermächtig zu sein wie Superman, wahlweise Supergirl, um irgendwelche Bösewichte, die einem die Vorfahrt genommen oder den Partner fürs Leben ausgespannt haben, straflos verprügeln zu können? In dem Märchen von Aschenputtel wie dem von Supermann können wir diesen Wunsch, diesen Tagtraum, erkennen. Mitunter sind wir schwach und hilfebedürftig und kein Mensch ist da, der uns hilft, so dass wir uns selbst helfen müssen und können; wir erleben, dass es möglich ist, aus dem Schatten anderer Menschen hervorzutreten. Eine schöne Vorstellung, oder? Doch lassen Sie uns jetzt zu den Details kommen.
Die erste Person, die im Märchen erscheint, ist die Mutter. Und Mütter sind im Märchen, selbstverständlich auch im wirklichen Leben, immer gut. Das wissen wir alle. Und wenn die Mutter, das geschieht selbstverständlich nur im Märchen, zu gut ist, dann muss sie sterben und die Stiefmutter nimmt ihren Platz ein, denn eine Stiefmutter darf böse sein. Man darf davon ausgehen, dass beide, Mutter wie Stiefmutter, dieselbe Person sind. So ist das nun einmal im Leben: Keiner von uns ist nur gut oder nur böse. Das mag mitunter ärgerlich sein, weil wir doch gerne den Bösewicht als nur böse sehen würden und die gute Mutter als makellos in der Liebe zu ihren Kindern. Um dem Bedürfnis, Mütter rückhaltlos als gut darzustellen und dem Wissen, dass sie das keinesfalls sind oder sein können, gerecht zu werden, spaltet man sie praktischerweise auf. Das erspart Ärger bei denen, die dem Märchen lauschen, und es ist einfacher, in Schwarz-Weiß zu malen, was dem Stil von Märchen entgegenkommt.
Die gute Mutter meint, ihre namenlose Tochter möge immer fromm und gut sein, dann wird der Himmel, und, na klar auch sie selbst, für sie sorgen. Woher die Gewissheit der Mutter kommt, dass ihr ein Platz im Himmel zusteht, das bleibt ein Geheimnis des Märchenerzählers. Aber wo schon sollten so grundgute Menschen nach ihrem Ableben anders hin als in den Himmel? Die gute Mutter stirbt und die Zeit der Trauer, der Kälte, geht vorbei, der Schnee schmilzt und damit ist der Vater wieder auf Freiersfüßen. Und wie das der Brauch in Märchen ist, sonst müsste die gute Mutter ja nicht sterben, er trifft die falsche Wahl. Eine üble Person mit zwei mindestens ebenso üblen Töchtern macht ab sofort unserer Protagonistin, dem Aschenputtel, das Leben zur Hölle. Bei Disney sind die üblen Töchter der Stiefmutter potthässlich. Schön wär’s, wenn die Bösen immer hässlich wären und die Guten immer schön. Irgendwie glauben wir doch alle daran, dass man bösen Menschen ihre Bosheit ansehen müsste, wären wir sonst so begierig darauf, von Verbrechern das Gesicht zu sehen? Selbst in Hollywoodfilmen wie in » Shallow Hal « (deutsch: Schwer verliebt) mit Jack Black und Gwyneth Paltrow weiß man, dass es sich so leider nicht verhält. Und so naiv wie Disney war unser Märchenschöpfer nicht. Die zwei Stiefschwestern sind ausgesprochen hübsch, wenn nicht gar schön. Seltsamerweise machen sie aus ihrer Stiefschwester das hässliche Aschenputtel. Wer gibt ihnen die Macht dazu? Die Stiefmutter?
Eher nicht, sie unterstützt ihre Töchter lediglich in ihrem schändlichen Tun. Die Holzpantoffeln und das schäbige Kleid bekommt Aschenputtel von ihren Stiefschwestern, ebenso weisen die ihr die Schmutzarbeiten zu. All das geschieht mit wohlwollender Duldung der Mutter. Es geschieht mit der zweigesichtigen Mutter. Ihr liebevolles Gesicht zeigt sie dem gehorsam-frommen Aschenputtel, ihr hässliches Gesicht der ungehorsamen und launischen Tochter, die, wie es Sitte bei Heranwachsenden ist, von den Hausarbeiten nicht allzu begeistert ist, vor allem nicht von den schmutzigen und anstrengenden. Die Schwestern erledigen für die böse Mutter die Grausamkeiten: Sie lassen das Aschenputtel sich schlecht fühlen. Doch wer bitte, sind die bösen Schwestern? Schließen wir uns der Meinung einiger Autoren, beispielsweise der Interpretation Verena Kasts in: » Vom gelingenden Leben – Märcheninterpretationen « an: Die zwei bösen Stiefschwestern Aschenputtels sind ihr eigener Schatten. Sie ist einerseits das brave Mädchen, das es allen, ohne zu widersprechen, recht machen will. Gleichzeitig hasst sie es an sich, dass sie auch eitel und selbstverliebt ist. Und das eitle und selbstverliebte Mädchen, das sie auch ist, hasst das unscheinbare Aschenputtel, das immer macht, was Papa und Mama wollen. Die böse Mutter liebt die eitle und materiell orientierte Tochter, die selbstbewusst auftritt und die sich vom Vater schöne Kleider und teuren Schmuck wünscht und verachtet das angepasste, duckmäuserische Aschenputtel. Die gute Mutter dagegen findet es super, dass die Tochter die ganzen Drecksarbeiten im Haus erledigt, so, wie es eine gut erzogene Tochter und spätere Ehefrau zu tun hat.
Wie ist das Verhältnis Aschenputtels zu ihren Eltern, wenn wir akzeptieren, dass die böse Stiefmutter nur das andere Gesicht der guten Mutter ist? Ihr Vater ist nützlich. Er bringt der braven Aschenputtel das Haselnussreis und er bringt dem eitlen Mädchen den Schmuck und die Kleider. Ansonsten? Wie so viele Väter, so ist er auch in dieser Familie eher eine Randfigur mit nützlichen Eigenschaften. Er ist es, der Geschenke bringt, er ist es, der den Prinzen auf das verhuschte Aschenputtel aufmerksam macht, das die böse Mutter lieber verschweigen würde.
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