Im Vergleich dazu sind die Ausbildungen heute ein Zuckerschlecken. Weil sie immer irgendwelche Vorschriften zu beachten haben, kommen die Azubis heute doch gar nicht mehr richtig zum Lernen, wie man arbeitet, weil sie schon beinahe vor der Arbeit beschützt werden. Ob das besser ist? Richies und alle vorangegangenen Generationen hatten die Ausbildung auch gut überstanden und waren gute Handwerker gewesen.
So, wie Richies Charaktereigenschaften waren und auch heute noch sind, kann man sich gut vorstellen, dass er ständig gegen den Strom schwamm, was ihm aber, wie schon festgestellt, nichts half. Wegen seiner kleinen und großen Streits mit dem Meister und den Gesellen, befürchtete Richie, als es auf das Ausbildungsende zuging, dass er nach seiner Gesellenprüfung ohne Anstellung dastehen würde. Er rechnete nicht damit, dass er einen Arbeitsvertrag bei der Werkstatt bekommen würde. In dieser Beziehung täuschte er sich aber. Richie war zwar eigensinnig und der Umgang mit ihm zeitweise schwierig, aber er war ein guter Arbeiter. Das war für den Chef wichtig! So wurde er dann auch als Geselle in diese Werkstatt übernommen.
Doch schon nach zwei Tagen bekam Richie Zwist mit einem seiner Kollegen. Ein paar der Arbeiter sahen in ihm immer noch den Stift und behandelten ihn dementsprechend. Sie meinten, weiterhin das Recht zu haben, Richie zum Essen Holen zu schicken und ihm Arbeiten auferlegen zu können, die sie selbst nicht gerne machten. Einer seiner Kollegen war dabei am rabiatesten und übertrieb es einfach. Dem drohte Richie eben nach zwei Tagen prompt Prügel an. Richie baute sich vor ihm auf und legte ihm dar, wenn sich sein Verhalten ihm gegenüber nicht bessern würde, er sich ein paar einfing – auch wenn der andere älter und natürlich länger in der Firma war. Das war Richie total egal. Nur wer anderen Respekt entgegenbringt, hat diesen auch selbst verdient, war Richies gesunde Einstellung dazu, da spielte das Alter keine Rolle.
Dieses Mal hatte sich Richie aber verhältnismäßig gut im Griff und warnte erst, anstatt ohne Vorwarnung zuzuschlagen. Die entstandene Auseinandersetzung der beiden wurde naturgemäß laut, so dass diese auch dem Chef nicht verborgen blieb. Der kam sofort aus dem Büro und fragte, was da los sei.
Mit viel Durcheinandergerede und gegenseitigen Schuldzuweisungen wurde er aufgeklärt, um was es ging. Richie begann in seiner explosiven Art dann fast einen noch schlimmeren Fehler, als zu prügeln. In der Aufregung und seiner Unbeherrschtheit sagte er zu seinem Chef, er solle seine Papiere fertig machen, weil er auf der Stelle kündige. Der Chef kannte Richie aber zum Glück nun schon weit über drei Jahre und wusste um dessen Hitzkopf. Und einen guten Arbeiter, der Richie zweifellos war, wollte er nicht verlieren. Den anderen Gesellen schickte er an seine Arbeit und auf Richie wirkte er beruhigend ein. Er bagatellisierte die Angelegenheit und fragte, als sich Richie wieder abgekühlt hatte, ob er das ernst gemeint hätte mit der Kündigung. Natürlich ließe er ihn gehen, wenn das sein Wunsch wäre, aber er würde sich freuen, wenn er bei ihm bliebe, erklärte er Richie in aller Ruhe. Obgleich Richie nicht unkompliziert war, besaß er für seinen Chef einen großen Wert. Richie feierte nie krank und war immer für die Arbeit da. Ebenso erledigte er seine Aufgaben schnell und gewissenhaft, weil sein Beruf letztendlich sein Hobby war. Bei Richie kam die Bezeichnung „Beruf“ wirklich von „Berufung“. Der Chef konnte immer auf Richie zählen, wenn es mal eng wurde und er jemanden brauchte, der eine Extraschicht einlegte, um ein Problem zu lösen. Auf Richie war grundsätzlich in jeder Beziehung Verlass, was man nicht von all seinen Kollegen behaupten konnte.
Die Arbeitslage war in jener Zeit hervorragend für Arbeitnehmer, also musste der Chef die Drohung schon ernst nehmen. Damals gab es mehr Arbeit als Arbeiter, was bedeutete, dass Richie wahrscheinlich schon am nächsten Tag wieder eine Anstellung gehabt hätte. Und wegen des bekannten Eigensinns von Richie, dem in diesem Moment egal gewesen wäre, was mit ihm anschließend geschah, nahm der Werkstattleiter seine Aussage nicht als leere Drohung auf. Weil er aber Richie nicht als Mitarbeiter verlieren und vor allem für Frieden in seinem Unternehmen sorgen wollte, redete er gleich darauf mit dem anderen Kollegen ein paar klare Takte, um künftig solchen Ärger erst gar nicht wieder entstehen zu lassen. Reden konnte der Chef, das war sein Element, in dem er immer siegte.
Die Kollegen änderten ab diesem Tag ihr Verhalten Richie gegenüber und akzeptierten ihn als gleichwertigen Mitarbeiter. Das Stift-Image war endlich abgelegt. Niemand war Richie böse wegen seines Schrittes, die Sache rabiat geradezurücken. Im Gegenteil, sie bekamen dadurch eher Respekt vor ihm, weil es doch zeigte, dass er für das Einstand, was er sagte, und sich auch durchsetzte. Richie hatte schließlich keinen Verrat geübt oder einen anderen denunziert, was unter Kollegen wohl das übelste Vergehen ist. Er hatte sich nur gewehrt und offen gezeigt, dass er sich nichts gefallen lassen würde. Alle, die es bis dahin noch nicht gemerkt hatten, stellten bald fest, dass Richie ein guter, ehrlicher und kollegialer Mitarbeiter war. Es zweifelte keiner mehr daran, dass Richie nie jemanden linken oder verraten würde. Richie zeigte nun auch, was als Lehrling nicht in der Form möglich war, dass er nämlich stets zur Verfügung stand, einem Kollegen zu helfen, wenn der mit seiner Arbeit alleine nicht zurechtkam. Richie kannte sich in so manchen Dingen besser aus, als die Altgesellen und konnte ihnen damit oft wertvolle Tipps geben. Kurz: Richie war alsbald sehr beliebt und voll integriert in die Truppe. Auch mit dem Kollegen, mit dem zu Anfang seiner Gesellenzeit Probleme bestanden, verstand er sich später hervorragend.
Mit 18 Jahren, noch in der Ausbildung, machte Richie bereits den Führerschein für Auto und Motorrad. Dafür sparte er schon seit seinem ersten Lehrlingsgeld. Den Lappen, wie der damalige graue Führerschein gerne genannt wurde, hatte er schon in der Tasche, als er die Gesellenprüfung absolvierte, weil sich die beiden Prüfungen fast überschnitten. Sein nächstes großes Ziel war, sich endlich ein eigenes Motorrad kaufen zu können. Er konnte es kaum erwarten, das Geld endlich zusammengespart zu haben. Mit fast 19 war es dann so weit. Der Zeitablauf passte gut zusammen, denn seine Prüfungen legte er im Winter ab und da wäre es unsinnig gewesen, sich ein Motorrad zu kaufen und anzumelden. Aber zu beginn des Sommers war er am Ziel. Richie hatte genug Geld zur Seite gelegt und kaufte sich eine 1000-cm³-Rakete. Na ja, was damals halt eine Rakete war… Im Vergleich zu dem, was die Asphaltsplater von heute an PS und Beschleunigung so hergeben, war das nicht so sensationell. Für diesen Feuerstuhl aber gab Richie seinen letzten Pfennig. Er war sein ganzer Stolz. Richie sparte nach dessen Anschaffung auch noch weiter, um sich diverse Extras für sein geliebtes Moped zu kaufen. Bald gehörte sein „Hocker“, wie er sein Motorrad auch gerne nannte, zu den heißesten in der Stadt.
Richie fand dann auch über seinen alten Schulfreund Knopf Anschluss an eine Motorradgruppe – keine Rocker, wenn sie auch oft fälschlicherweise dafür gehalten wurden, sondern einfach eine Clique aus Leuten, deren Hobby das Motorradfahren war. Auf der Straße verhielten sie sich auch nicht wie rücksichtslose Verkehrsrowdys. Natürlich gaben sie ihren Pferdchen auch gelegentlich freien Lauf und hielten sich nicht immer an die Geschwindigkeitsvorgaben, wenn die Straße übersichtlich und frei war. Aber dies immer ohne Risiko für sich und andere Verkehrsteilnehmer.
Ihr Alter lag zwischen 18 und 35 Jahren. Die Gruppe bestand damals aus zwölf Kerlen, von denen vier feste Freundinnen hatten, die natürlich auch immer mit dabei waren. Jeder von ihnen besaß sein eigenes Motorrad. Sie alle verstanden sich prächtig und waren sich nahezu immer in allem einig. Mit ihren heißen Öfen unternahmen sie allerhand. Fast jedes Wochenende fuhren sie zusammen eine Tour zu einem Ziel, das sie vorher abstimmten. Dabei ging es meist um irgendeine Sehenswürdigkeit oder eine Veranstaltung, die für sie interessant war. Oder sie befuhren eine der berüchtigten Motorradstrecken. Ein Mal im Jahr veranstalteten sie auf einem alten verlassenen Betriebsgelände ein großes Fest mit Grillen, Bier und einem Geschicklichkeitswettbewerb, bei dem sie mit viel Spaß ermittelten, wer seinen Hocker am besten im Griff hatte.
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