Richie glaubt heute zu wissen, dass das ungehinderte Erreichen des Laderaumes nicht sein Verdienst war, sondern dass er das dem Feuerwehreinsatz wegen des Zwischenfalls auf der Piste zu verdanken hatte. Alle Augen und Bemühungen waren auf das verunglückte Flugzeug gerichtet, so dass niemand auf einen Jungen achtete, der sich in das Heck eines Flugzeugs schlich.
Von den angestellten im Tower, von dem aus man das gesamte Areal hinter den Abfertigungshallen überblicken konnte, wäre Richie unter normalen Umständen wahrscheinlich auch sofort gesichtet worden. Dort saß eigentlich auch spezielles Wachpersonal, dessen Aufgabe die Überwachung des Flughafengeländes war. Das Aufsehen wegen des Unfalls zog aber wohl kurzfristig und im genau richtigen Moment alle Aufmerksamkeit auf sich und so war es Richie möglich geworden, vorerst unbemerkt in den Laderaum zu gelangen.
Richie ging schnell und auf leisen Sohlen durch den Frachtraum in die hinterste Ecke. Dort drückte er sich zwischen zwei mannshohe Holzkisten, um sich zu verstecken. Die Ladung bestand aus Kisten, großen Gitterboxen mit den Koffern darin sowie Paletten. Die Fracht war von zwei Männern des Bodenpersonals mit einem Stapler eingeladen worden. Die waren zu seinem Glück schon weg, weil sie wohl ihre Arbeit beendet hatten, und sie würden bestimmt nicht wiederkommen, hoffte Richie. Im Schutze der zwei Kisten freute sich Richie still über seinen bisherigen Erfolg. Nun würde er schon bald in England sein! Es dürfte ab jetzt nichts mehr schief gehen.
Dennoch hatte Richie irgendwie Angst davor, doch noch erwischt zu werden und dass sein Vorhaben scheitern könnte. Das Gefühl kam ganz tief aus seinem Innern und er konnte es sich nicht erklären. Warum überkam ihn jetzt noch Angst, wo er so weit gekommen war? In der Stille, die in dem Laderaum herrschte, meinte Richie, sein Herz so laut wie Big Ben bei Nacht schlagen zu hören. Es war schaurig und nervenzerrend, im Halbdunkel zu sitzen und darauf zu warten, dass sich die Klappe endlich schloss. Wenn die Ladeluke verschlossen war, würde es nicht mehr lange dauern, bis die Reise losging. Und wenn sie erst unterwegs waren, konnte ihn niemand mehr entdecken und es gab ebenso kein Zurück mehr. Dann hatte er es endgültig geschafft, da war sich Richie sicher.
Auf einmal vernahm Richie schwere Schritte, die unaufhaltsam und gleichmäßig die große Rampe heraufkamen. Mit einem Auge spickte Richie um die Ecke seiner Kiste, um zu sehen, wer oder was das war. Er erkannte einen uniformierten Mann, wahrscheinlich den Piloten oder dessen Co-Piloten. Der Ankömmling trug eine dunkelblaue Jacke mit Streifen und Sternen, wie Richie sie von Bildern von Piloten kannte. Der Offizier kam in den Laderaum und wackelte an den Kisten, Boxen, Kartons und Paletten, um zu prüfen, ob sie alle richtig gesichert waren. Also noch einmal Gefahr, erwischt zu werden! Richie kroch weiter rückwärts in den Spalt, den die Holzkisten bildeten. In diesem hinteren Winkel war es stockdunkel. Beim Zurückkrabbeln stieß Richie gegen einen dort liegenden Holzkeil, der normalerweise gebraucht wird, um runde Gegenstände gegen Wegrollen zu sichern. Dieser Sicherungskeil lag unbenutzt herum und wurde Richie zum Verhängnis.
Das polternde Geräusch entging dem Mann natürlich nicht. Er war ja darauf konzentriert, Mängel bei der Frachtsicherung festzustellen. Um nachzusehen, was das für ein Poltern war, kam er unverzüglich näher. Richie wusste sofort, dass das für ihn das Aus bedeutete, und mit diesem Gedanken verspürte er Wut gegen sich selbst. Der Mann trat vor den Spalt und leuchtete mit einer Lampe hinein – direkt in Richies Gesicht.
Als er den Jungen sah, verschlug es ihm offensichtlich erst einmal die Sprache. Nach einem Moment der Verblüffung und ratlosen Blicken fragte er Richie, was er da zu suchen hätte, woher er käme und wie er überhaupt da hinein gekommen sei. Viel zu viele Fragen auf einmal! Richie antwortete zuerst gar nicht. Er hatte Angst vor dem, was jetzt passieren würde, und war zudem trotzig. Dieser Mann hatte seinen Plan zerstört.
Der Pilot kam aus dem Staunen nicht heraus und meinte dann: „Das ist ja ein dicker Hund!“
Blödmann, isch bin doch kän Hund, protestierte Riche still.
Weiterhin fragte er, weil Richie immer noch keinen Ton sagte, was er sich bei dieser Dummheit gedacht hätte. Dann erklärte er Richie, wie gefährlich das sei, was er da versuchen wollte, weniger wegen des entdeckt Werdens, sondern wegen der eventuellen Folgen. Dass er gefunden wurde, sei Richies Glück gewesen. Der Mann eröffnete Richie, dass das Flugzeug in einer Höhe von 10 000 Metern fliegen würde. Dann erklärte er ihm, dass dort eine Temperatur von bis zu minus 60 grad Celsius herrsche. Es gebe nirgends auf der Welt einen Platz, der so kalt sei. Da das Flugzeug keinen klimatisierten Frachtraum besitze, würde diese mörderische Kälte langsam bis in sein Versteck vordringen, schilderte der Uniformierte weiter. Das schlimmste aber sei, klärte er Richie auf, dass es dort oben kaum Sauerstoff gebe, um zu atmen.
Richie wurde nach diesen Erklärungen langsam klar, dass er seine Reise unter solchen Bedingungen nicht lebend überstanden hätte. Er war alt und intelligent genug, die Fakten zusammenzuzählen und richtig zu interpretieren, um auf dieses Ergebnis zu kommen. Diese Tatsachen kannte er bis dahin leider nicht.
So langsam dämmerte dem Retter dann auch unter gleichzeitigem Aufhellen seines immer noch erstaunten Blicks eine Ahnung, weshalb ein Junge im Laderaum seines Flugzeugs sein könnte. „Sag mal“, fragte er Richie plötzlich, „heute gab es doch in der Schule Zeugnisse, oder?“
Schlaues Kerlchen, dachte Richie ironisch, nickte aber dann, um die Frage zu beantworten. Der Schock, was geschehen wäre, wenn, entlockte ihm wenigstens ein Kopfnicken.
„Deines war wohl besonders schlecht?“, bohrte der Mann weiter. „So schlecht, dass du abhauen wolltest?“
Wieder ein zögerliches Kopfnicken von Richie.
„Pass auf“, sagte der Retter väterlich. „Ich hoffe, dass dir das eine Lehre war. Ich will dir nicht auch noch zusätzlich Schwierigkeiten bereiten, wenn du mir versprichst, sofort nach Hause zu gehen. Es wird schon nicht so schlimm werden.“
Richie nickte wieder und versprach es ihm somit. Die anfängliche Wut über den Mann, der ihn entdeckte und seinen Traum zerstörte, verflog mehr und mehr, je besser Richie verstand.
Der Uniformierte nahm ihn an der Hand und führte ihn durch das Flughafengebäude hinaus vor den Flughafen. Mit seinem Begleiter gab es keinerlei Probleme, durch die Kontrollen und Türen zu kommen. Der Ausreißer lief mit gesenktem Kopf neben seinem Retter her. Vor dem Gebäude fand Richie dann auch seine Sprache wieder. Bei einem kurzen Gespräch mit dem groß gewachsenen Mann, das einen freundschaftlichen Charakter hatte, erfuhr Richie dann, dass sein Helfer tatsächlich selbst der Pilot der Maschine war. Der Pilot machte keine Hektik, obwohl er eigentlich schon längst wieder in seinem Cockpit hätte sitzen müssen. Richie verabschiedete sich dann von ihm mit einem herzlichen Händedruck und einem kleinlauten „Danke“.
Der Mann rief Richie noch nach: „Komm gut heim, Kleiner! Und viel Glück! Alles, alles Gute!“
Um eine lebenswichtige Erfahrung reicher, machte Richie sich sodann auf die gleiche Weise, auf die er nach Frankfurt gekommen war, auf den Heimweg nach Mannheim. Eine andere Möglichkeit blieb ihm auch nicht. Nur kurz erwog er, seine Eltern anzurufen, damit sie ihn abholten. Das war aber eine ganz indiskutable Idee. Das Ausreißen und Auswandern erledigte sich für Richie mit diesem gefährlichen Abenteuer von alleine. Solche Hirngespinste hatte er von nun an gründlich satt.
Als Richie es dann endlich bis in seine Heimatstadt geschafft hatte, er dabei wiederum mit verschiedenen Fahrern unterwegs war, war es schon mitten in der Nacht. Er beeilte sich, zum Bahnhof zu kommen, um seine Schultasche zu holen, damit es nicht noch unnötig später wurde. Die Bahnhofsgegend war in der Nacht schon etwas angsteinflößend. Mit seiner Tasche auf dem Rücken lief er dann, so schnell er noch konnte, heim. Das würde Theater geben!
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