Die wollen einen mit allen möglichen Mitteln klein, brav und gefügig machen, wenn es sein muss, sogar mit Erniedrigungen und entwürdigenden Psychospielchen. Etwas anderes ist das in Richies Augen nicht. „Nä des muss nät sei“, flüstert er jetzt, wo ihm das in den Sinn kommt.
Wenn Richie diese Alternative bedenkt, sitzt er lieber die zwei Wochen E-Haft ab. Die wird er schon irgendwie hinter sich bekommen. Er hat es sich ja auch schließlich selbst zuzuschreiben, das sieht er ein. Allerdings wurde ihm schon mal mit der Psychohaft gedroht, weil er schon öfter durch seine Aggressivität auffällig war. Aber Richie ist nun mal ein Hitzkopf. In Momenten, in denen er gereizt wird oder sich Diskussionen stellen muss, kommt sein Temperament durch. Richie bekommt oft Streit wegen Kleinigkeiten, steigert sich unangemessen in die Sache hinein und gebärdet sich dann wie ein Wilder, vollkommen außer Kontrolle. Er müsste einfach lernen, sich besser zu beherrschen.
Sollte er bei seinem nächsten Ausraster, der sicherlich nicht zu vermeiden ist, zu einer Beruhigungshaft verdonnert werden, wird ihn das höchstwahrscheinlich auch nicht ändern. Sie werden ihn damit nicht in die Knie zwingen. Das würde jeder unterschreiben, der ihn kennt, und das werden die hier auch noch lernen!
Es ist für Richie schwer so ganz alleine, denn eigentlich ist er gern unter Menschen. Wenn er einsam in einem Zimmer oder – wie jetzt – in seiner Zelle sitzt, hat er das Gefühl, ihm fällt die Decke auf den Kopf und die Wände erdrücken ihn langsam. Richie ist kein Träumer, der mit sich und seinen Gedanken gerne allein ist. Er braucht Leben um sich herum. Klar, wenn Richie einer von jenen Knackis wäre, die gerne alleine mit sich selbst sind, würde ihm die E-Haft jetzt nichts ausmachen. Ja, es gibt wirklich welche, die nur in einer Einzelzelle ihre Strafe abbrummen und darüber froh sind. Richie kann so etwas nicht verstehen. Das sind, seiner Meinung nach, die Ruhigen, die Menschenhasser, die nur mit sich selbst als Partner glücklich sein können. Solche Leute gibt es wirklich! Richie kann es kaum fassen. Er selbst muss unter Menschen sein, muss erzählen und sich unterhalten können. Er ist schon seit jeher unternehmungslustig und muss raus. Früher als Kind hielt es ihn nicht länger als nötig zu Hause, zum Leidwesen seiner Mutter, die oft nicht wusste, wo er überhaupt steckte. Als er älter und selbstständiger wurde, war er meist nur noch zum Schlafen daheim, ansonsten war Richie unterwegs. Jetzt, da Richie so nachdenkt über sich und seine Vergangenheit, erinnert er sich wieder an seine Kindheit. Schon damals im Kindesalter, so stellt er fest, hatte er seinen „dummen Fehler“. Ihm fällt die Geschichte ein, als er aus Wut einen anderen Jungen verprügelte. Das ist seine früheste Erinnerung an seinen Makel, der ihn sein ganzes Leben lang begleiten wird, als er das erste Mal gewalttätig wurde.
Es trug sich zu, als Richie mit gerade mal sieben Jahren mit seinen Eltern an der Nordsee in den Sommerferien war. Am Strand unten am Wasser, wo der Sand immer schön feucht ist, baute Richie mit viel Mühe eine Sandburg. Er war gerade dabei, die Mauern und Türmchen mit Muscheln zu verkleiden, die er selbst am Strand gesammelt hatte, da geschah es: Auf einmal stand dieser andere Junge neben ihm. Er sah kurz zu, was er tat, und stieß dann mit dem Fuß nacheinander gegen die Sandtürmchen – eindeutig mit Absicht und Richie dabei nach jedem einzelnen Turm herausfordernd ansehend. Die Türme stürzten natürlich sofort in sich zusammen und Richie wie von einer Hornisse gestochen in die Höhe. Er fiel ohne jede Vorwarnung über den Zerstörer her und bedeckte ihn mit Schlägen. Daraufhin räumte der Geschlagene laut schreiend und fluchtartig das Feld.
Unverzüglich war Richies Mutter zur Stelle, stoppte die Verfolgung des anderen Jungen, beschimpfte ihren Sohn wegen seines Verhaltens und zog ihn unsanft am Arm hinter sich her zu der Decke, auf der sie vorher noch gesessen hatte.
Richies Wut auf den fremden Jungen wurde dadurch natürlich gesteigert, weil er selbst nun der böse Bube war und sich ohne zu murren neben seine Eltern setzen musste. Hätte Richie in diesen Minuten den Schreihals zu fassen bekommen, hätte er ihn dafür gleich wieder verprügelt. Nach diesem Vorfall hörte Richie auch das erste Mal von seinem Vater den Satz: „Siehst du, das ist dein Sohn!“
Diesen Ausspruch sollte Richie noch öfter in seinem weiteren Leben hören. Zu dem Zeitpunkt dachte er sich natürlich aufgrund seines Alters noch nichts bei dieser Aussage seines Vaters. Für ihn war es eben eine Bemerkung, die er nebenbei aufschnappte.
So und so ähnlich erging es Richie sein gesamtes Leben hindurch – bis jetzt. Dieses Ereignis war ein Paradebeispiel. Im Alter zwischen 12 und 17, in der Pubertät also, war es am schlimmsten.
Richie wuchs weiter und war mit 13 oder 14 Jahren bereits so groß wie seine Mutter. Der Größe nach kam er genau nach seinem Vater, der knapp 1,80 Meter maß, aber vom Gesicht her sah Richie ihm überhaupt nicht ähnlich. Das wurde umso deutlicher, je älter Richie wurde.
All seine Aggressionen und seine Gewaltbereitschaft setzten sich extrem frei, als er ein Teenager war. In dieser Phase der Entwicklung benahm sich Richie wie ein wildes störrisches Tier, so, als ob irgendetwas in ihm steckte, was er selbst nicht erklären konnte, was jedoch an die Oberfläche wollte. Alles, was seine Mutter oder sein Vater zu ihm sagten, wusste er besser und rief Diskussionen hervor. Oder er lehnte grundsätzlich alles strikt ab und ging auf Konfrontationskurs. Es hatte einfach keine Bedeutung für ihn, was seine Eltern wünschten oder erwarteten. Zu der Zeit war Richie wirklich ein sehr schwieriger Junge, dessen schnelle Reizbarkeit dann meist obendrein diese primitive Handlungsweise des Zuschlagens auslöste. Gegen seine Eltern erhob er allerdings niemals die Hand.
Oft fing Richie mit anderen Jungen aus seiner Schule auf dem Schulweg oder im Schulhof aus heiterem Himmel Krach an. Ein Grund, um Stunk zu machen, ließ sich immer finden. Darin bekam Richie auch immer mehr Übung. Er forderte einen Jungen zum Beispiel heraus, indem er ihm etwas wegnahm und ihn dann damit bis aufs Blut ärgerte. Wenn der andere dann mit dem Mut der Verzweiflung auf ihn losging, hatte Richie sein Ziel erreicht. Eine andere klassische Masche von ihm war, jemanden wie aus Versehen anzurempeln, um dem anderen dann die Schuld dafür zuzusprechen. Der Angerempelte wehrte sich selbstverständlich gegen diese Anschuldigung und schon war ein Anlass für eine Prügelei vorhanden. Auch wenn der Angestoßene über den Hintergrund dieser Aktion Bescheid wusste und gleich zurücksteckte, weil er keinen Streit wollte, kam fast keiner davon. Richie stupste den Auserwählten dann an der Schulter an und provozierte ihn mit Worten bis aufs Blut. Richie warf ihm vor, erst nicht aufzupassen und dann zu feige zu sein, es zuzugeben, und dass er gefälligst vorsichtig sein solle – bis der Ausgesuchte sich dann doch wehrte und zurückstieß. Auf die eine oder andere Art schaffte es Richie immer, einen Streit vom Zaun zu brechen, der in einer schönen Prügelei endete.
Manches Mal genügten auch Worte oder Beleidigungen als Provokation. Darin war Richie dann doch sprachgewandt, ganz im Gegensatz zu normalen Rededuellen. Dabei suchte sich Richie auch niemals vermeintlich Schwächere aus. Richie suchte Gegner, keine Opfer. Er hielt sich immer an gleichgroße und kräftige Jungs. Es ging ihm wohl um das archaische Platzhirschgehabe. Mal sehen, ob ich nicht stärker bin, wie es in der Halbstarken-Phase oft zu beobachten ist. Nur war dieses eben bei Richie extrem ausgebildet. Für Schwächere hatte sein Verhalten sogar einen Vorteil: Wenn Richie dazukam, wenn ein offensichtlich Stärkerer einen Unterlegenen anging, mischte er sich sofort ein und kam diesem zu Hilfe. Ein herrlicher Grund für eine Prügelei – und dabei dann noch als Held zu gelten. Richie war allerdings auch trotz seiner Raufwut kein isolierter Einzelgänger, wie man vermuten könnte. Die meisten mieden ihn zwar wegen seiner Unzurechenbarkeit und aus Angst, eines seiner Opfer zu werden, dennoch hatte er immer ein paar Freunde an seiner Seite. Das waren aber keinesfalls, wie man annehmen könnte, Duckmäuser und Speichellecker, die aus Feigheit alles taten, um ihm zu gefallen. Solche Typen bekamen von ihm gleich eine Lektion in Form einer tracht Prügel. Schleimer konnte Richie nicht ausstehen. solche Angsthasen, die alles taten, auch wenn es noch so erniedrigend war, nur um gut dazustehen, gerieten bei ihm an den Falschen. Nein, seine Freunde besaßen mehr oder weniger dieselbe Einstellung wie Richie selbst: Nur keinen Streit vermeiden! Wenn auch bei Richie diese Eigenart am stärksten ausgeprägt war, wodurch er für die Übrigen zu einer Art Leitbulle wurde.
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