Gute Geschichen bessern die Welt.
Uwe Böschemeyer
Wie man den Sinn des
Lebens nicht findet
story.one - Life is a story
1. Auflage 2021
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Gesetzt aus Minion Pro und Lato.
© Coverfoto: Clem Onojeghuo, unsplash
© Fotos: unsplash.com
Printed in the European Union.
ISBN: 978-3-903715-14-1
eISBN: 978-3-903715-15-8
Es gibt überall Blumen für
den, der sie sehen will.
Henri Matisse
Wie man den Sinn im Leben nichtfindet Wie man den Sinn im leben nicht findet Mehr als die Hälfte meines langen Lebens habe ich anders gefragt, nämlich, was der Sinn des Lebens sei und wie man ihn finden könne. Dass die Sinnfrage die zentrale Frage im Leben des Menschen sei, hat mir mein Lehrer Viktor Frankl, der große Wiener Psychiater, Neurologe und Philosoph, gezeigt. Und nun bin ich überrascht, dass es sich lohnt, einmal anders herum zu fragen. Für diese Anregung danke ich meinem Freund Hannes Steiner, der mir diese brisante Frage zugespielt hat. Als er sie ausgesprochen hatte, begann in mir mein geistiger Motor auf Hochtouren zu laufen, und ich fand bald eine Fülle von Antworten, von denen ich einige mir wichtig erscheinende vor Ihnen ausbreiten möchte. (Verzeihen Sie mir, dass ich Sie sieze. Ich bin 82 Jahre alt und kann mich an das üblich werdende Du nicht mehr gewöhnen). Ich werde Ihnen zunächst zwölf Beispiele beschreiben, wie man nicht Sinn im Lebens finden kann. Danach erzähle ich von drei Menschen, die ihren Sinn trotz mancher Schwierigkeiten gefunden haben. Drittens schreibe ich aus meiner Erfahrung, wie man Sinn finden kann. Diese Leitgedanken sind das Ergebnis jahrzehntelanger Arbeit. Schließlich – und darauf freue ich mich – locke ich alle nach Sinn Suchenden dazu heraus, heute mit der Suche danach zu beginnen. Denn heute ist der „Beginn vom Rest meines Lebens“. Nun also das erste der zwölf „negativen“ Beispiele:
Sinn findet nicht, wer chronisch aggressiv ist Sinn findet nicht, wer chronisch aggressiv ist Manchmal ruft er mich an, der alte Mann. Wenn ich ihn dann nach seinem Befinden frage, antwortet er mürrisch: „ Man muss ja zufrieden sein.“ Er ist es aber nicht. Denn, so scheint mir, wartet er nur darauf, dass er mit seinen Schimpfkanonaden beginnen kann: Von seinen erwachsenen Kindern will er nichts mehr wissen, und wehe, wenn sie einmal vor seiner Tür stehen sollten! - Der Mann, den er einmal einen Freund genannt und dem er viel geschenkt hat, habe sich als treulos erwiesen. - Seine Frau lässt ihn zu oft allein. Er verlangt von ihr, dass sie ständig in seiner Nähe ist, sogar bei Fußball-Übertragungen. - Die Telekom hat ihn wieder einmal versetzt. - Der Gärtner hat keine Ahnung, wie ein gepflegter Garten auszusehen hat. - Über den Nachbarn will er lieber gar nichts sagen. Einen solchen Menschen kann man nur vergessen. - In einer Schublade wartet ein Revolver auf ihn, falls sein Leben noch unerträglicher werden sollte. Hat der alte Mann denn Grund für diese und viele andere Klagen? Wenn ich ihm sagen möchte, dass sein Leben aus meiner Sicht nicht nur beklagenswert verlaufen ist, wechselt er sofort des Thema. Dann erkundigt er sich nach meinem Befinden. Dabei bemerke ich, dass ihn das kaum interessiert. Wenn wir diesen kurzen Gesprächsteil abgehandelt haben, schimpft er über die Ärzte, die ihm nahegelegt haben, sich neurologisch untersuchen zu lassen, da er ein wenig vergesslich geworden ist. Sein Hausarzt weiß ohnehin viel besser als alle Fachärzte, was ihm fehlt, denn er spielt mit ihm Golf. Wenn ich jetzt an ihn denke, überkommen mich unterschiedliche Gefühle: Mitleid, weil ich sehe, wie er sich durchs Leben quält -, Zorn, weil ich die Fülle seiner Aggressivität denkbar überflüssig finde -, Mitgefühl, weil ich befürchte, dass sein Sterben wahrscheinlich einmal schwer werden wird. Denn wer nicht irgendwann im Leben Sinn erfahren hat, wird sinn-los sterben. Trotz allem: Ich mag den alten Mann: Manchmal lächelt er. Dann scheint es mir, als sähe ich für Augenblicke sein Jungengesicht. Oder: Wenn er sich unbeobachtet fühlt, überschattet manchmal eine tiefe Traurigkeit sein Gesicht. Irgendwann weinte er still in sich hinein. Dann hätte ich ihn am liebsten umarmt, doch das hätte er keinesfalls zugelassen. Zweifellos hätte er mich aggressiv angefaucht. Denn er konnte sich nicht lieben lassen.
Sinn findet man nicht, wenn man Alkoholiker ist Sinn findet man nicht, wenn man Alkoholiker ist Während meines Studiums machte ich in einer Alkoholiker-Klinik für Männer ein langes Praktikum. Das Besondere an diesem Aufenthalt war für mich, dass ich nicht Alkoholiker kennenlernte, sondern Menschen, die an Alkoholismus erkrankt waren. Ich kann sagen, dass ich mich selten in einer Gemeinschaft so wohl gefühlt habe wie in dieser, obwohl ich keine Affinität zum Alkohol habe. Süchtige Menschen haben kein Vertrauen, weder zu sich noch zum Leben. Deshalb haben sie Angst. Weil sie Angst haben, fühlen sie sich nicht frei. Weil sie sich nicht frei fühlen, haben sie größte Mühe, Sinn im Leben zu finden. Weil aber der Wunsch nach Sinn der stärkste unter allen Wünschen ist und der Sinn selbst das Wichtigste, was wir im Leben brauchen, entwickelt sich in denen, die daran Mangel verspüren, eine starke Sehnsucht. Und deshalb greifen sie nach dem, was ihnen ein Sinngefühl zu versprechen scheint, was es auch sei und wie es damit auch endet. Wer süchtig ist, kreist nur um das Eine, um sein Suchtmitteln und macht es zur Hauptsache im Leben. Er scheint nichts anderes zu brauchen. Um diese eine Hauptsache kreist er, nicht um sich selbst. Wie merkwürdig sind wir Menschen doch, dass wir die Tendenz haben, auf Freiheit zu verzichten und also auf Sinn und Glück und lieber den schwarzen Vögeln folgen, obwohl wir ahnen, wohin sie uns locken. Im Speisesaal jener Klinik stand ein Flügel. Wenn ich nicht beschäftigt war, setzte ich mich an das Instrument und spielte. Nach und nach kamen die Männer zu mir und sagten zum Beispiel: „Bei diesem Tango habe ich meine Frau kennengelernt.“ Oder: „Bei diesem Slowfox habe ich mich in meine Frau verliebt.“ Oder … Dabei fiel mir ein Mann auf, der mir nur zulächelte. Irgendwann jedoch fragte er mich, ob wir auch einmal vierhändig spielen könnten. Ich willigte gern ein. Rasch bemerkte ich, dass neben mir ein Künstler sass. Wir kamen ins Gespräch. Er erzählte mir, dass er auf dem Weg gewesen sei, Konzertpianist zu werden. Dann habe er seine Frau, eine Prostituierte, kennengelernt. Miteinander hätten sie sieben Kinder. Die familiäre Situation habe ihn jedoch überfordert, so dass er zu trinken begonnen habe. Inzwischen sei er süchtig. Während er von sich erzählte, sah ich, dass er einmal ein schönes Männergesicht gehabt hatte, in das sich jedoch inzwischen die Sucht unverkennbar eingegraben hatte. Ob er Hoffnung für sein Leben nach der Klinik hatte? Er zuckte mit seinen Schultern und lächelte mich müde an. Ich habe ihn sehr gemocht.
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