Untereinander verstanden sie sich erstklassig, hatten niemals miteinander Streit und hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Sie alleine hatten das Sagen in ihrer Klasse und in der gesamten Schule – und der Chef von allen war Richie.
Heute ist Richie ruhiger als damals. Er fängt selbst keinen Streit mehr an, aber wehe, wenn ihn jemand reizt und provoziert. Dann gilt auch heute noch sein Motto: Wer zuerst zuschlägt, ist Sieger und hat Recht! Danach reagiert und handelt er dann auch. Ab dem Punkt wird es für die meisten gefährlich, denn Richie war noch nie der Unterlegene. Er ging aus handgreiflichen Auseinandersetzungen bis jetzt immer als Sieger hervor. Seine Gegner verloren – meist auf dem Boden kauernd, jammernd und keuchend – jedes Mal den Zusammenstoß mit ihm. Richie ist unglaublich schnell mit seinen Fäusten. Bevor der andere die Hand kommen sieht, spürt er sie. Dazu kommen Richies unglaublicher Wille, sich durchzusetzen, und dass er selbst sehr viel Schmerz ertragen kann, so dass, falls es einem Gegner gelingen sollte, ihn mit einem Schlag zu treffen, er diesen unbeeindruckt wegsteckt.
Hinterher, wenn sein Adrenalinspiegel wieder herunterfährt und er den Besiegten am Boden liegen sieht, ärgert er sich meist über sich selbst. Er weiß dann, dass es so weit nicht hätte kommen müssen und der Streit das nicht wert war. Besonders, wenn seine Rauferei schlimme Folgen hatte – so, wie jetzt, da er wegen der letzten Gewalttätigkeit in dieser stumpfsinnigen und unnötigen E-Haft sitzt. Hätte er sich doch nur beherrscht! Hätte er doch bloß zu dem Idioten gesagt: „Lass mich in Ruhe und nerve andere!“
Trotz der Reue danach und trotz seines Wissens darum, wie er sich besser verhielt, würde es Richie auch bei seinem nächsten kritischen Zusammenstoß unmöglich sein, seine Aufregung im Zaum zu halten und vernünftig zu reagieren. Seine aufpeitschende Art mit den überempfindlichen Reaktionen ist nun mal ein Charakterzug von ihm, gegen den er machtlos ist. Es ist dann, als ob jemand seinen Verstand ausknipst und erst wieder einschaltet, wenn sein Kontrahent vor ihm im Straßenstaub liegt.
Dieses sein persönliches Problem brachte in Richie in den letzten Tagen, in denen er dazu genügend Zeit und Gelegenheit hatte, darüber nachzudenken, auch schon den Gedanken auf, ob vielleicht seine Eltern bei seiner Erziehung einen Fehler machten, weil er doch als Person das Resultat der Erziehung seiner Eltern war und sein Verhalten eben ein Teil davon. Aber wenn Richie sich damit auseinandersetzte, kam er zu dem Schluss, dass er gar nicht so schlechte Eltern hatte. Er wuchs behütet auf und bekam alles, was er sich wünschte, wenn es im Bereich des Möglichen lag. Sie nahmen ihn stets in Schutz, wenn eine Bedrohung von außen auf ihren Sohn zukam. Er stand nie alleine da und hatte immer Rückhalt von Vater und Mutter.
So schützten ihn Papa und Mama einmal, als er bei einem missglückten Lausbubenstreich ertappt und von dem aufgebrachten Geschädigten im Genick gepackt und nach Hause geschleppt wurde. Da dürfte er so etwa acht Jahre alt gewesen sein. Seine Eltern verteidigten ihn und bekamen mit dem Mann regelrecht Streit, weil dieser wegen eines so unbedeutenden Streiches ihren Sohn derart behandelte und über ihn schimpfte. Der Mann zog bald ohne Erfolg wütend ab und Richie musste sich lediglich eine Rüge anhören, statt eine Ohrfeige zu kassieren, wie es der Herr gerne gesehen hätte.
Es wäre natürlich auch möglich, dass Richie zu sehr verwöhnt wurde. Das kommt aber für ihn bei näherem Betrachten doch nicht in Frage. Wer gibt auch schon gerne vor sich selbst zu, dass er verwöhnt und verzogen ist? Keiner! Richie besaß auch stets Respekt vor seinen Erzeugern, so, wie das sein sollte, und er hat diesen auch heute als erwachsener Sohn noch. Auch in der Pubertät, als er sehr eigenwillig und stur war, hörte er im Endeffekt doch auf das, was seine Eltern sagten, bevor diese sich ernsthaft erzürnten. Richie ließ es letztendlich nicht auf eine echte Konfrontation mit ihnen ankommen. Bevor seine Eltern wirklich böse wurden, gab er dann doch murrend, trotzig und schimpfend nach. Vater und Mutter behielten also trotz allem die Oberhand.
Dass er nun im Gefängnis sitzt, brach seiner Mutter fast das Herz.
So trieb einmal sein Respekt vor seinen Eltern Richie dazu, als es Halbjahreszeugnisse gab, dass er sich nicht nach Hause traute. In Richies Zeugnis gab es damals außer Vieren und Fünfen nur noch eine Sechs. Seine Versetzung war gefährdet. Das war in der fünften Klasse. Kinder haben in dem Alter noch weltfremde Illusionen, bei denen sie nicht an eventuelle verdeckte Gefahren denken oder wie unsinnig gewisse Aktionen sein können. Auf der anderen Seite wollen sie schon erwachsen sein und dementsprechend handeln.
In dieser Beziehung war Richie dann wieder ein vollkommen normales Kind. Auch er hatte in seiner Lage einen derartig dummen und gefährlichen Einfall. Aus Angst und Scham wollte er sich auf keinen Fall daheim mit diesem Zeugnis blicken lassen. Er ersann in seiner kindlichen Unbefangenheit einen Plan, wie er aus dieser Situation herauskommen wollte und alles zum Guten wenden könnte. Ihm fiel sein Traumland beziehungsweise seine Traumstadt ein, in die er schon immer einmal reisen wollte. Aus irgendeinem unbekannten Grund hatte Richie gerade diese Stadt zum Lieblingsziel auserkoren. In seinem jugendlichen Leichtsinn und seiner Unbekümmertheit fasste Richie kurzerhand den Entschluss, nach England auszuwandern, nach London! Dort wollte er sich bessern, aus Rache auf das hiesige Schulsystem Erfolg haben und so viel Geld verdienen, dass er seine Eltern nachholen könnte.
Auf einem willkürlich ausgesuchten Treppenabsatz in der Innenstadt sitzend formte Richie seinen Plan. Per Anhalter wollte er zum nächstgrößeren Flughafen gelangen, wo sein neues besseres Leben starten sollte. Zuerst ging er zum Hauptbahnhof, um seine Schultasche, die ihm sicherlich lästig werden würde oder ihn sogar verraten könnte, in einem der Schließfächer zu deponieren. Die Mark dafür hatte er noch von seinem Essensgeld übrig, das ihm seine Mutter jeden morgen gab. Das war sein letztes Geld, aber das machte ja nichts. Richie hatte schon oft von Menschen gehört, die ohne jeden Pfennig in ein fremdes Land kamen und es dort bald zum Millionär schafften. Aus seinem Schulranzen nahm Richie nur einen dicken schwarzen Filzstift mit und machte sich dann vom Bahnhof aus auf den Weg zur Autobahn. Er wusste von den Ausflügen mit seinen Eltern, wo diese zu finden war. Zu Fuß war die Strecke allerdings wesentlich weiter, als sie sonst mit dem Auto erschien.
Auf seinem Marsch durch die Stadt machte ihm sein schlechtes Gewissen glauben, dass alle Leute nur ihn ansahen. Richie fühlte sich verfolgt und beobachtet. Er meinte, jeder, der ihm begegnete, wusste genau über sein Vorhaben Bescheid. Richie fühlte sich schon etwas unwohl in seiner Haut. Dann endlich, am Rande der Stadt, kam er an ein Schild, das zeigte, dass die Autobahnauffahrt nur noch 500 Meter entfernt war. Hier waren auch nicht mehr so viele Menschen zu Fuß unterwegs und er fühlte sich nicht mehr so unter Beobachtung und dadurch freier. Richie konnte es kaum erwarten, er kam seinem Ziel immer näher. Beim Hinauflaufen auf die Autobahnzufahrt, als er die Motorengeräusche der vorbeifahrenden Fahrzeuge hörte, sah Richie vor seinem geistigen Auge die riesigen Passagierflugzeuge starten und landen, die vielen bunten Lichter des Flughafens und die strahlend leuchtende Stadt London. In einem dieser Flieger würde er bald selbst sitzen!
Auf dem Haltestreifen der Fahrbahn angekommen, nahm Richie den Karton, den er unterwegs gefunden hatte und schon eine geraume Weile mitschleppte, und schrieb auf diesen mit großen dicken Buchstaben gut leserlich mit dem Filzstift: FRANKFURT.
Im Heimatkundeunterricht hatten sie gelernt, dass das einer der größten Flughäfen Deutschlands war und hier in der Nähe sein sollte. Die Schule war also doch nicht ganz unnötig, dachte sich Richie.
Читать дальше