Kurz vor dem Elternhaus plagte ihn dann doch für eine Sekunde wieder das schlechte Gewissen. Was sollte er bloß auf die nervenden Fragen seiner Eltern antworten? Denn dass sie wissen wollten, wo er war, würde ohne Zweifel nicht ausbleiben, sonst wären sie ja nicht normal gewesen. Er entschied sich für: Augen zu und durch! Die Ohrfeige, die er sich sicherlich mindestens einhandeln würde, war ihm egal. Richie war ja nicht wehleidig. Aber diese bohrenden Fragen und diese Blicke! Er verstand und wusste schließlich, dass seine Eltern sich sehr um ihn sorgten. Da musste er durch, er hatte es sich ja selbst zuzuschreiben.
Richie nahm sich vor, zu behaupten, er hätte sich seit dem Schulschluss die ganze Zeit in den Straßen der Stadt herumgetrieben. Er legte sich alles so gut es ging zurecht. Die Wahrheit, dass er in Frankfurt auf dem Flughafen war, ja, sogar im Frachtraum eines Flugzeugs, legten ihm seine Eltern wahrscheinlich als Lüge aus, weil es zu unglaublich gewesen wäre. Oder beide hätte auf der Stelle der Schlag getroffen, falls sie es doch glaubten. Also fand Richie die Notlüge, dass er sich die halbe Nacht auf der Straße herumgetrieben hätte, die beste Lösung. Ob seine Eltern ihm ernsthaft böse waren, wusste Richie nicht genau zu sagen. Wahrscheinlich waren sie erst einmal froh, dass sie ihren Sohn wieder unversehrt zurückhatten. Mütter und Väter dachten in solchen Situationen ja immer an das Schlimmste. Was aber anschließend folgen würde, wenn die erste Freude über das Wiedersehen abgeklungen war, konnte Richie im Voraus nicht einschätzen. Derart benahm er sich noch nie daneben.
Dann stand Richie unbeholfen vor der Wohnungstür, den Schlüssel in der Hand – und er zögerte doch. Ihm schoss in Sekundenbruchteilen alles erneut durch den Kopf. Was würde ihn hinter dieser Tür erwarten?
Endlich gab sich Richie einen Ruck, denn er konnte ja nicht ewig so stehen bleiben und überlegen. Er schob sachte den Schlüssel ins Schloss und öffnete vorsichtig die Wohnungstür. Als ob seine Eltern in den Startlöchern gestanden hätten und auf dieses schließende Geräusch warteten, stürmten sie den Gang entlang auf Richie zu. Für einen Moment befürchtete er, dass sie ihn umrennen würden. Seine Mutter rannte vorneweg mit den Worten, die wohl jede Mutter in solchen Situationen von sich geben würde: „Mein Junge, wo warsch du? Was hosch du gemacht? Was soll denn des?“
Sein Vater kam hinterher und war wahrscheinlich ebenso froh wie die Mutter, dass sich sein Junge wieder eingefunden hatte, konnte das allerdings besser überspielen. Er reagierte nüchterner und mit strengeren Worten. Ob er, Richie, noch zu retten sei, so spät heim zu kommen und ihnen einen derartigen Schrecken einzujagen. Sie würden sich ja schließlich Sorgen um ihn machen, weil sie schon dachten, es sei etwas mit ihm geschehen, schimpfte der Vater laut. So redeten beide aufgeregt durcheinander auf den reumütigen Sohn ein.
Richie antwortete auch hier nicht gleich, sondern ließ zunächst die abwechselnd strengen, fürsorglichen und anklagenden Worte mit gesenktem Kopf auf sich einprasseln.
Die erste Aufregung legte sich schnell und sie gingen zu dritt ins Wohnzimmer, nachdem Richie stumm an ihnen vorbei vorauslief, um dort das Desaster zu klären. Im Wohnzimmer bekannte Richie dann kleinlaut Farbe. Er legte Mutter und Vater das miserable Zeugnis auf den Tisch mit den Worten: „Deswege hab isch misch nät häm getraut.“ Das genügte zuerst einmal und sie wurden betroffen ruhig.
Die Eltern sahen sich verständnislos an, nahmen vorerst ohne Kommentar das Heft und blätterten es bis zum aktuellen Stand auf. Die Mutter hielt es in der Hand und sie studierten gemeinsam die Noten. Danach blickten sie zuerst wieder sich und schließlich ihren Sohn an. Dann legten die beiden erneut abwechselnd los: „Des is zwar kä subber Zeignis, awer deswege brauchsch doch kä Angscht vor uns zu hawe. Was lernsch du a nät? Vun jetzt ab lerne ma öfter zusamme, damit du die Versetzung schaffsch. Was soll das dann? Des is doch kän Bäbruch! Des biege ma schun wieder hi. Sag mol, wo warsch du jetzt eigentlich die ganz Zeit?“
So löcherten und nervten sie Richie, wie vorausgeahnt, mit den wohl typischen Fragen, wie sie in solchen Situationen gestellt wurden. Ein regelrechtes Verhör, gepaart mit Vorwürfen und einer Moralpredigt.
Von seinem Ausflug nach Frankfurt und seinen Erlebnissen auf dem Flughafen erwähnte Richie, wie geplant, keine Silbe. Stattdessen blieb er bei der Version, in der Stadt ziellos hin und her geirrt zu sein. Er gaukelte vor, nicht gewusst zu haben, was er tun sollte, und zeigte sich betroffen. Diese Story schluckten seine Eltern wie Honig, ohne weitere Fragen zu stellen. Warum hätten sie auch auf die Idee kommen sollen, dass es ganz anders gewesen sein könnte? Das war doch der Klassiker. Zum Glück hakten sie nicht nach, denn wenn sie wirklich gebohrt hätten, bestand die Gefahr, dass Richie sich verplappert hätte. Er war nach der Anstrengung dieser Tour hundemüde und dementsprechend unkonzentriert und hätte sich dadurch leicht verraten können. Dann wäre die Sache erst richtig heiß geworden.
Das Thema wurde mit den Ausreden Richies gütlich abgeschlossen. Zu Richies Erstaunen erfolgte zum Schluss kein Hausarrest, Fernsehverbot, Taschengeldentzug oder was so manche Eltern noch alles als erzieherische Maßnahmen in petto hatten. Mit irgend so etwas rechnete Richie stark. Er bekam nur die Auflage, mit der Mutter fleißig zu lernen, um sich zu verbessern und die drohende Ehrenrunde abzuwenden. Das war für ihn okay. Richie wollte natürlich auch nicht sitzen bleiben und das Schuljahr wiederholen müssen. In diesem Fall siegte ausnahmsweise sein Verstand über seine Sturheit, denn wäre es umgekehrt gewesen, hätte er es im Nachhinein sicherlich, wie immer, bereut. So nahm sich Richie tapfer zusammen, lernte strebsam mit seiner Mutter, machte immer brav seine Hausaufgaben und konnte sich so in allen Fächern um eine oder zwei Noten nach oben verbessern. Der Versetzung ins nächste Schuljahr stand am Ende nichts mehr im Wege.
Seinen Eltern ist Richie heute noch dafür dankbar, dass sie ihn mit Strenge an die Hand nahmen und zum Lernen zwangen. Ohne sie hätte sich Richie schon damals seinen Lebenslauf verdorben.
Beim austeilen der Versetzungszeugnisse am Schuljahresende ließ sein Klassenlehrer dann glatt den überflüssigen Satz los: „Siehst du, Richie, es geht doch, wenn man nur will!“
Laller, war Richies gedanklicher Kommentar dazu.
Jetzt schweifen Richies Gedanken in jene Zeit ab, als er die Schule erfolgreich abgeschlossen hatte. Nun ging es für ihn, wie für alle anderen, darum, eine Lehrstelle zu finden, um einen Beruf zu erlernen.
Seine Leidenschaft waren damals schon Autos und Motorräder. Die Wände seines Zimmers waren nicht, so, wie bei anderen Jugendlichen, mit Stars und Popgruppen, sondern mit Rennmaschinen, Tourenwagen und Luxussportwagen beklebt. Folglich lag es nahe, dass er den Beruf des Autoschlossers ergreifen würde.
Auf dem Arbeitsamt, wo Richie zu einer Berufsberatung und zur Vermittlung einer Lehrstelle vorstellig wurde, bekam er dann auch prompt Streit mit dem Berater. Wenn jemand eine andere Meinung als Richie vertrat, konnte das ja leicht geschehen, wenn derjenige versuchte, ihm seine persönliche Betrachtungsweise aufzuzwingen.
Der Berufsvermittler erzählte ihm, dass er sein äußeres Erscheinungsbild verändern solle, um einen seriösen Beruf mit Zukunft und Aufstiegschancen ergreifen zu können. Solche Reden wollte Richie nun aber überhaupt nicht hören. Für sein damaliges Alter und seine Einstellung war das reinstes Opa-Geschwätz. Richie war angezogen wie alle Jungs in dieser Zeit: Jeanshose, T-Shirt, Jeansjacke, hochhackige Stiefel und er hatte lange, wirre Haare. Er wollte kein Snob sein, sondern cool und easy. Die Hippiebewegung aus den USA war gerade am Ausklingen, so dass schon mit Richies Einstellung und der des Beraters Welten aufeinander prallten.
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