Mit diesem Schild stellte sich Richie dann an den Fahrbahnrand und hielt es den vorbeifahrenden Autos entgegen. Bald wurde er auch ohne Probleme mitgenommen, was ihm heute so im Nachhinein selbst komisch vorkommt. Er wurde zwar von jedem, der ihn zu sich in den Wagen steigen ließ, gefragt, was er in Frankfurt wolle, aber keiner wurde angesichts seines Alters wirklich skeptisch und hakte ernsthaft nach, was so ein Junge alleine auf der Autobahn zu suchen hatte. Richie musste auf seiner Fahrt nach Frankfurt auch mehrmals umsteigen, weil keiner seiner Fahrer direkt dorthin fuhr. Sie waren aber jedes Mal so nett und sagten ihm, wo er sich nun hinstellen musste, um den Anschluss in Richtung Frankfurt zu haben.
Bei der Planung seines Unternehmens hatte Richie mit mehr Schwierigkeiten gerechnet, als es dann tatsächlich gab. Es ging alles relativ reibungslos und er kam gut vorwärts. Dass ihn einige Fahrer etwas seltsam anschauten, war Richie in dem Moment egal. Er hatte nur sein Ziel im Blick. Denen, die ihn fragten, was er in Frankfurt wolle, erzählte er das Märchen von seinem Freund, der umgezogen sei und den er unbedingt besuchen wolle. Die Geschichte hatte er sich ebenfalls auf dieser Treppe ausgedacht und zurecht gelegt. Richie merkte damals, wie wichtig Planung und Vorbereitung waren. Ob die jeweiligen Chauffeure seine Ausführungen glaubten, er weiß es bis heute nicht. Auf jeden Fall hörten sie auf, zu fragen, und er hatte seine Ruhe. Das war wichtig.
Vielleicht kam Richie auch der Umstand zugute, dass er mit zwölf schon das Aussehen eines 15- bis 16- Jährigen hatte. Wenn die Autofahrer sein wahres Alter gewusst hätten, wären sie sicherlich nicht so einfach zu beruhigen gewesen. Das nächste Problem, das sich Richie bei seiner Planung vorgestellt hatte und über das er während der Fahrt nachdachte, erledigte sich dann von alleine. Er hatte natürlich keine Ahnung, wo der Flughafen in Frankfurt zu finden war und wie er es anstellen sollte, dorthin zu kommen. Danach fragen wollte er nicht, das wäre vielleicht aufgefallen und hätte ihn verraten. Aber der Mann, mit dem Richie die letzte Etappe hinter sich brachte, wollte selbst zum Flughafen. Der Fahrer ließ ihn dann an der Abzweigung zum Flughafen aussteigen, in dem Glauben, dass Richie sich von dort aus jemanden suchen könne, der ihn bis in die Stadt mitnahm. Stattdessen wartete Richie einfach, bis das Auto außer Sichtweite war, und setzte den letzten Teil des Weges in dieselbe Richtung zu Fuß fort. So schaffte er es dann ohne Weiteres tatsächlich, den Flughafen zu erreichen. Die Entfernung war unglaublich groß, aber Richie wurde von seinem Wunsch immer weiter getrieben. Es ist im Nachhinein erstaunlich, welche Kräfte der Wille mobilisieren konnte.
Als er an der ausgedehnten Front der Abfertigungs- und Wartehallen ankam, war es schon früher Abend. Richie stand mutterseelenallein vor dem übergroßen Flughafenkomplex. Für ihn war das eine eigene große Stadt. Es wimmelte von Leuten, die ihre Koffer schleppten, von Taxen, Personal, auch Sicherheitsdienst, sowie an- und abfahrenden Autos. Insgesamt ein undurchschaubares Durcheinander. Bei diesem regen Treiben hatte keiner Zeit, auf den anderen oder einen einsamen Jungen zu achten. Jeder war genügend mit sich selbst, seinem Gepäck und seinen Begleitern beschäftigt und auf der Suche nach seinem Flug.
Nun ergab sich für Richie das Problem, auf die Startbahn und in das richtige Flugzeug zu gelangen. Zuerst musste er also eine Maschine ausfindig machen, die nach London startete. Das war, wie Richie bald feststellte, das kleinere Übel.
Nachdem er sich orientiert und etwas umgesehen hatte, konnte er in einer der großen menschenüberfüllten Wartehallen eine mächtige Anzeigetafel entdecken. Dort las er ab, wann und von welchem Startplatz aus der nächste Flieger nach Großbritannien abhob. Alles war gut beschildert und beschrieben.
Auf der Tafel, vor der Richie stand, konnte er nach kurzem Studieren ersehen, dass in etwa einer Stunde ein Flugzeug nach London abfliegen sollte. Na, also!
Richie suchte die entsprechende Abflughalle auf. Er verlief sich fast in dem gigantischen Durcheinander des Gebäudes auf dem Weg dorthin. Bei seinem Eintreffen wurden gerade die Fluggäste für diesen Flug abgefertigt. Als er das sah, erkannte Richie eine neue schreckliche Schwierigkeit, die sich vor ihm auftat: Wie sollte er durch diese Kontrollen kommen? Ein Flugticket und Ausweispapiere besaß er natürlich nicht und wie er beobachtete, wurde vom Personal alles sehr genau kontrolliert. Richie sah ein, dass es hier kein Durchkommen für ihn gab. Er musste einen anderen Weg finden. Seine Chance, diesen Flug, wollte Richie unter gar keinen Umständen verpassen. Er rannte also so schnell er konnte zurück, durch das Gebäude und raus ins Freie. Dann schnaubte Richie die lange Front entlang, immer weiter, bis er nur noch einen Zaun neben sich hatte. Ohne lange zu zögern, kletterte Richie über diesen Maschendrahtzaun. Am oberen Abschluss des Zaunes, der aus Stacheldraht war, riss er sich die Jacke und den Ärmel auf, was ihn aber nicht eine Sekunde seiner kostbaren Zeit kostete. Auf der anderen Seite des Zaunes im Flughafengelände angekommen, lief Richie auf die Abflugplätze zu, die er hinter dem riesigen Komplex vermutete. Zu seinem Glück waren auch von außen an den Wänden der Gebäude die jeweiligen Abflugplätze groß und deutlich angeschrieben.
Richie entdeckte bald das riesige blaue Rechteck, auf dem mit weißen Buchstaben der gesuchte Flugsteig ausgewiesen war. Darauf steuerte er zielstrebig zu.
Zeitgleich mit dem Entdecken seines Flugzeuges, in das er sich einschmuggeln wollte, hörte Richie die Sirenen der ausrückenden Feuerwehr. Ihm rutschte fast das Herz in die Hose, als er diesen Alarm vernahm, weil er glaubte, entdeckt worden zu sein und dass er jetzt gleich umringt würde von Sicherheitspersonal. Mit lautem Tatütata und Blaulicht fuhren die roten Kastenwagen aber von ihm weg die Piste entlang und Richie erkannte in der Ferne ein Flugzeug, das seltsam seitlich auf dem Bauch lag.
Um sich dieses spektakuläre Ereignis anzusehen, hatte Richie jedoch keine Zeit. Er musste zu seiner Maschine! Außer Atem und mit schlimmem Seitenstechen erreichte er den überdimensionalen silbernen Vogel. Richie suchte zuerst Deckung unter einer der Tragflächen und kauerte hinter einem der großen Radpaare. Vorsichtig peilte er von seinem Sichtschutz aus in alle Richtungen, konnte aber nirgendwo in seiner Nähe einen Menschen entdecken. Alles ruhig, die Luft war rein!
Am Hinterteil des Fliegers war eine mächtige Klappe heruntergelassen, die, so folgerte Richie, in den Laderaum führen würde. Das war es! Dort musste er unbemerkt hineinkommen, denn da drin würde er sicher und unentdeckt die Reise in sein neues Leben antreten können.
Richie atmete noch einmal tief durch. Das Seitenstechen spürte er in der Aufregung schon gar nicht mehr. Der Zeitpunkt war günstig. Es war immer noch keine Menschenseele zu sehen und so spurtete er los.
Die Strecke, die er nun in vollem Spurt zurücklegen wollte, schien kein Ende zu nehmen. Der mächtige Eingang kam überhaupt nicht näher. Aber nach unendlich scheinenden Sekunden und ungezählten gerannten Metern hatte Richie endlich die Laderampe erreicht.
Just in dem Moment, als er polternd die geriffelte Plattform hochlief, kamen aus dem Flughafengebäude die Passagiere für diesen Flug. Er sah noch kurz, wie die Menge aus teilweise staunenden Menschen voller Vorfreude auf die Gangway zukam, dann tauchte Richie in den düsteren Laderaum ein.
Heute weiß Richie, wie gefährlich sein damaliges Unternehmen war und wie leicht er normalerweise hätte entdeckt werden können. In seiner kindlichen Naivität jedoch hielt er seinen Erfolg, in das Flugzeug zu kommen, nicht nur für Glück, sondern auch für Können. Er duckte sich schwer schnaufend hinter eine Kiste und hielt sich für genial, das geschafft zu haben. Richie empfand das alles wie ein reales Räuber-und-Gendarm-Spiel.
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