Nachdem die Aufpasser im Abstand von ein bis zwei Minuten losgegangen waren und sich auf der Strecke verteilt hatten, zog sich Peter hinter einem großen Baum splitternackt aus. Die beiden, die am Start geblieben waren, überwachten das und nahmen seine Kleider an sich. Peter hüpfte dann ohne weitere Verzögerung aus dem Gestrüpp auf den Weg und rannte mit einem lauten „Attacke!“ los. Er flitzte tatsächlich die gesamte vorgeschriebene Strecke ohne Pause und ohne jeglichen Ausbruchsversuch durch. Peter rannte wie verrückt.
Richie weiß noch, wie sie sich allesamt wunderten, welche Kondition man in solchen Ausnahmefällen entwickeln konnte und welche Reserven in einem schlummerten, wenn man sie wirklich nötig brauchte. Peter war schließlich kein Sportler und sie hatten alle geglaubt, dass er mindestens ein Mal verschnaufen müsste, um die Distanz zu laufen. Dazu hätte er selbstverständlich wieder ins Gebüsch gedurft und wäre von seinen Freunden gedeckt worden. Nach der Pause hätte er seinen Weg dann vom gleichen Punkt aus fortsetzen müssen. So waren die Regeln. Peter schaffte es aber zum Erstaunen aller ohne Unterbrechung.
Ausgelaugt, schnaubend und mit hochrotem Kopf, den man leuchten sah, als er den Helm abnahm, erreichte er sein Ziel. Dort stürzte Peter sofort wieder in die Büsche, wo er von zwei seiner Kumpels neue Klamotten erhielt, die er geschützt anziehen konnte, bevor er wieder als normal gekleideter Jugendlicher auf der Bildfläche erschien. Die Wette war eingelöst und die Gruppe um eine Sensation in ihren Erinnerungen reicher.
„Jetzt erschd ämol än Glimmstängel“, waren Peters erste Worte nachdem er wieder Luft bekam. Aber diese Belohnung musste er noch verschieben.
Die Frage, ob der rote Kopf von der Anstrengung oder vom Schamgefühl kam, konnte nicht geklärt werden. Wahrscheinlich war es von jedem ein bisschen. Ansonsten lief alles besser als erwartet, ohne Schwierigkeiten oder störende Zwischenfälle. Die Organisation war perfekt und die Dauer der Aktion war zu kurz, als dass die alarmierte Polizei hätte rechtzeitig zur Stelle sein können, um einzugreifen. Die Bikes standen am Ziel bereit und so fuhren sie, als Peter wieder bekleidet aus dem Gebüsch kam, sofort weg, raus aus dem Wald.
Später dann in ihrer Kneipe wurde das Erlebte natürlich ausführlich erörtert und bis ins Detail durchgegangen. Den meisten standen Tränen in den Augen vor lachen, als sie sich gegenseitig die Reaktionen der Spaziergänger schilderten und dazwischen immer wieder das Bild vom nackten rennenden Peter beschrieben. Aber Peter galt an diesem Tag auch als der Held.
Viele – überwiegend ältere – Passanten zeigten sich furchtbar empört. Denen blieb fast die Luft zum Atmen weg vor übertriebener Entrüstung, als Peter auf sie zu oder an ihnen vorbei lief. Keiner der Clique wollte allerdings wissen, was die früher so alles im Wald getrieben hatten. Andere haben nur geschmunzelt oder einfach nur „Huch!“ gerufen, um dann kopfschüttelnd über den Nackedei ihren Weg fortzusetzen. Wieder andere konnten es nicht fassen, so etwas zu sehen, und stammelten irgendwelche unverständliche Worte. Hingesehen haben sie aber alle oder sogar mit dem Finger auf Peter gezeigt.
Nur einer war ganz locker. Peter erzählte von einem Jogger, die im Waldpark massenhaft vertreten sind, der dieselbe Route nahm wie er und deswegen sogar ein Stück neben ihm her rannte. Der Dauerläufer grüßte Peter ganz normal mit „Hi!“ und fragte ihn, ob er das öfter mache. Peter gab ihm keine Antwort. Zum Abschied habe der Typ nur noch gesagt: „Das ist cool“, er sei dann jedoch abgebogen, um seinen eigenen Weg zu nehmen.
Für Peter war das wahrscheinlich die allerletzte Wette, die er jemals annahm. So etwas sollte ihm nie wieder passieren. Horst lachte natürlich auch fleißig mit und stänkerte mit den anderen. Insgeheim hoffte aber jeder, dass auch er noch während des Jahres schwach werden würde, um ihnen ebenfalls ein solches Spektakel zu bescheren. Aber das abschreckende Beispiel von Peter gab ihm die Kraft, die er brauchte, um durch die Entzugsqualen an das angestrebte Ziel zu gelangen. Horst hielt es tapfer durch, ohne Rückfällig zu werden, und rauchte nach Richies Wissen bis heute nicht.
Des Öfteren traf sich ein Teil der Clique auch bei Specki, denn immer nur in der Kneipe herumzuhängen, war auch nicht das Wahre.
Specki hieß mit richtigem Namen Walter. Da er aber etwas sehr rund um die Taille war, verpassten sie ihm kurzerhand diesen Spitznamen. Walter – alias Specki – war ein gutmütiger, leichtgläubiger, treuer Freund, wie die meisten dickleibigen Menschen, der auch Spaß verstand und nichts gegen den Spitznamen einzuwenden hatte. Er stand zu seiner Figur. Wegen seiner Gutgläubigkeit war Specki natürlich oft Zielperson für heimtückische Scherze. Es war zu einfach, Specki hinters Licht zu führen, wenn man es geschickt verpackte.
So etwas reizt nun mal die hämische Natur des Menschen. Richie fallen gerade zwei Beispiele dazu ein.
Das erste Mal war noch zur Schulzeit, als sie zu viert bei Specki zu Hause waren. Bei Specki war eigentlich auch schon in der Vergangenheit immer Treffpunkt, weil sie dort oft ungestört waren und seine Eltern nichts dagegen hatten. Die Eltern waren auch dieses Mal nicht da und die fünf Jungs waren alleine und ohne Aufsicht in der Wohnung. Wie das so ist als Junge, prahlte Specki mit dem Neun-Millimeter-Revolver seines Vaters und holte ihn auch bald, um ihn seinen Freunden zu zeigen. Der Vater war im Schützenverein und besaß die Waffe legal. Jeder bestaunte das Schießeisen, das man sonst nur aus Filmen im Fernsehen kannte. Specki prahlte dann, dass er seinem Vater auch noch eine Patrone stehlen konnte, die normalerweise gut unter Verschluss seien.
Auch die ging durch alle Hände und wurde genau inspiziert. Urplötzlich kam einer auf die Idee, dass man damit einmal richtiges „Russisches Roulett“ spielen könnte. Der Einfall kam von Richie, der den anderen sogleich im Geheimen ein Zeichen gab, dass sie mitmachen sollten bei dem, was nun folgte, weil er Specki hereinlegen wollte. Also zeigten sich alle gleich hellauf begeistert und wollten das gefährliche Spiel. Nur Specki lehnte es ab. Er wurde aber selbstverständlich überstimmt und beugte sich dem Gruppenzwang, der auf ihm lastete.
Richie klappte also den Revolver auf und steckte für alle gut sichtbar die Patrone in eine der Kammern. Specki überwachte das mit seinen gemischten Gefühlen am genauesten. Wiederum durch ein für Specki unsichtbares Zeichen bedeutete Richie dann Heiko, einem der Freunde, dass er Specki ablenken sollte. Richie wusste, dass Heiko dazu genau der richtige war. Der beherrschte so was wie kein zweiter. Und es gelang hervorragend, wie abgesprochen. Die ganz kurze Unaufmerksamkeit von Specki nutzte Richie dann, um die Patrone wieder aus der Trommel zu nehmen.
Als Specki wieder zu Richie sah, klappte der gerade den Revolver zu und drehte die Trommel, so dass man nicht wissen konnte, wo die vermeintliche Kugel saß. Richie hielt den Revolver in die Runde und fragte, wer beginnen wolle. Sein Plan ging auf und Specki meldete sich, um es gleich hinter sich zu bekommen. So war es gut und Richie musste nichts mehr manipulieren, damit der Ablauf so folgte, wie er es sich wünschte.
Specki nahm die Waffe an sich und eröffnete die Mutprobe. Mit etwas zittrigen Fingern, aber ohne echte Angst hielt er sich die Waffe nach Spielfilmmanier an die Schläfe und drückte mit zusammengekniffenen Augen ab. Er war sich wohl in dem Moment noch gar nicht so bewusst, was da geschah. Es erklang nur ein metallisches Klacken. Mehr passierte nicht und Specki atmete auf. Die Waffe gab er an den Nächsten weiter. Einer nach dem anderen setzte sich dann ebenso den Lauf an die Schläfe und drückte ohne Sorge ab, weil ja alle außer Specki wussten, dass nichts geschehen konnte. Dabei spielte aber jeder oskarreif Anspannung und Angst mit darauffolgender Erleichterung, so dass Specki nichts bemerkte. Das üble Spiel ging genau auf. Es war nach Ende der ersten Runde jeder ein Mal an der Reihe gewesen. Es hatte fünf Mal geklickt. Somit ging es wieder von vorne mit dem Ersten los – und das war Specki. Zuerst griff er entschlossen nach dem Revolver, den ihm Richie entgegenhielt, doch dann stutzte er und bekam große Augen. Specki begriff, was nun kommen musste. Es war fünf Mal nichts geschehen. Also waren fünf leere Kammern hintereinander gewesen. Der Revolver hatte aber sechs Schuss und so würde nun zwangsläufig die geladene Kammer kommen und Specki war an der Reihe!
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