So verbrachten Richie und seine Freunde insgesamt drei unwahrscheinlich tolle und unvergessliche Wochen in Spanien. Jeder von ihnen erinnerte sich lange und gerne an diese Zeit. Es wurde an keinem Tag langweilig und es gab ständig etwas zu lachen. Keiner wollte die Zeit missen, denn sie hatten unglaublich viel Lustiges erlebt.
Als der Urlaub zu Ende ging, beschlossen sie deswegen auch einstimmig, noch zu bleiben, was selbstverständlich nur ein Wunsch und nicht umsetzbar war. Sie musste ja wieder zurück in ihr eigentliches Leben.
Einen bleibenden Eindruck hatte bei ihnen auch der Stierkampf hinterlassen, den sie besuchten. Ob solche Spektakel in der heutigen Zeit noch sinnvoll sind, ist für Richie ein anderes Thema. Beeindruckend war es auf alle Fälle anzusehen, wie der Torero gegen den Stier antrat.
Oft stellte sich einer der Gruppe in Anlehnung an das Gesehene unverhofft in Positur, stampfte mit einem Fuß auf und mimte so den Matador. Dazu hielt er andeutungsweise die Arme seitwärts, als ob er das berühmte rote Tuch hielt, und rief: „Torro!“ Daraufhin fand sich immer ein anderer, der den Stier spielte und gebückt auf den Matador zustürmte. Wenn er ihn dann hauteng passierte, grölten alle übrigen der Gruppe laut: „Olé!“ Das gerne auch mitten auf der Straße. Ihren Namen „Verrückte Gruppe“ hatten sie schließlich nicht unbegründet verliehen bekommen. Dieses Spiel trieben sie sogar auf den Feuerstühlen während der Fahrten, besonders oft auf der Heimreise von Spanien. Am Anfang der Strecke gab es keine 50 Kilometer, in denen sie diese Show nicht abzogen. Einer der Vorausfahrenden hob den Arm seitlich heraus und war der Matador. Daraufhin beugte einer der hinten Fahrenden seinen Oberkörper noch weiter vor als normal, schaltete einen Gang herunter, um voll beschleunigen zu können, um dann als Stier den Matador zu passieren.
Richie brachte es dabei mehrmals zur Bestleistung, weil er es schaffte, derart zu beschleunigen, dass er mit einem Wheely , also nur auf dem Hinterrad, seinen Spurt auf das imaginäre Tuch startete. Nur das Olé-Rufen der Clique entfiel natürlich, wegen der Helme.
Richie erinnert sich oft mit einer Mischung aus Wehmut, Freude und Wut über sich selbst an diese schöne unbeschwerte, aber leider vergangene Zeit, so, wie jetzt.
Die Wut über sich deshalb, weil er hier 15 Jahre seines Lebens absitzen muss, wenn er das volle Strafmaß ohne Haftverkürzung inhaftiert bliebe. Diese ganze lange Zeit, ohne auch nur ein Mal eine Runde auf seinem Hocker drehen zu können, ohne den Fahrtwind und die pure Kraft des Motors beim beschleunigen spüren zu dürfen. 15 Jahre seines besten Alters! Fünf Jahre wären schon eine ganze Menge, die er sich aber vorstellen könnte und durchhalten würde, aber für ihn geht es um drei Mal fünf Jahre. Eine Zeitspanne, bei welcher Richie unmöglich erscheint, sie durchzustehen. Und das, weil seine unbremsbare, unkontrollierte Art einen nicht wieder gutzumachenden Fehler zur Folge hatte. Wenn er hier wieder herauskommt, wird er wohl ein Mann im so genannten „zweiten Frühling“ sein, aber mit gebrochenem Lebenswillen. Nein! Seinen Willen werden diese Affen ihm nicht brechen! Richie wird dagegen kämpfen. Er beschließt, sich nicht kleinkriegen zu lassen, da können sie mit ihm anstellen, was sie wollen. Er nimmt sich vor, sich nicht zu beugen und vor denen zu kuschen. Er wird immer wieder beweisen, dass er seinen eigenen Kopf hat und diesen auch benutzt. Richie will sich nicht von anderen steuern lassen und tun, was die von ihm erwarten. Mitläufer in einer von Politikern und Chefs diktierten Welt, die sich anmaßen, für alle anderen mitzudenken, wird er nie werden.
Schon seltsam, auf welche Gedankengänge man hier kommt, wenn man gar nichts anderes hat, als seine Gedanken, wird Richie gerade bewusst. Er hat noch nie so viele Überlegungen über die Welt und die Gesellschaft angestellt, wie hier in seiner Einsamkeit.
Der Unruhe und dem geklapper nach, das jetzt auf dem Gang draußen zu hören ist, gibt es anscheinend gleich Essen. Da wird auch schon die Klappe an seiner Tür betätigt und ein Tablett mit dem Essen in seine Zelle hereingeschoben. Und sofort danach rumpelt die Klappe wieder in die Verriegelung. Raubtierfütterung, schießt es Richie in den Sinn.
Das Geschirr besteht heute nur aus einer Schüssel. Als Richie sieht, was der Inhalt der Schüssel ist, muss er lachen. Gemüseeintopf mit Fleischstückchen, wie dieses „Menü“ auf dem Speiseplan genannt wird. Abfallessen, wie die Knackis es bezeichnen, denn wenn man genau schaut, was in der Suppe ist, und noch im Kopf hat, was in der vergangenen Woche auf der Speisekarte stand, weiß man sofort, dass all die Reste hier in dieser Schüssel enthalten sind: Das Fleisch vom Gulasch am Dienstag, Schnitzelteile vom Mittwoch und das jeweilige Gemüse von den Beilagen. Ziemlich oft gibt es diesen Pansch auch, denkt Richie. Und um es mit den Worten von Chris zu sagen: „Ein dickes Lob an die Küche!“
Wenn Richie gegessen hat, stellt er das Tablett mit dem Besteck wieder an die Klappe, wo es in etwa einer Stunde wieder abgeholt wird. Tolles Hotel hier! Dann sitzt er wieder in seinem „Zwinger“ und hat nicht die geringste Beschäftigung oder Unterhaltung. Nicht einmal Musik, so, wie in seiner normalen Zelle, darf Richie hier hören. Einem erwachsenen Mann werden hier Vorschriften gemacht und Verbote erhoben, wie einem kleinen Kind.
Richie kann beinahe unmöglich ohne Musik sein. Die Rhythmen braucht er für sein Blut, sagt er immer. Das Gedröhn von Rockmusik hatte Richie stets und ohne Ausnahme um sich. Auf Rock, der so richtig fetzt, steht er, da fährt er voll drauf ab. Richie hörte die Musik gerne laut und mit viel Bass, so dass der im Bauch zu spüren war. Außer beim Motorradfahren, da brauchte Richie keine Rockmusik. Der Sound der Maschine genügte ihm dann. Der rockte ihn noch besser als ein Livekonzert der härtesten Band. Das war damals in der Freiheit richtig stark!
Was bleibt Richie nun in seiner momentanen Lage, als in seinen Erinnerungen an sein Leben vor dem Knast zu schwelgen und in seiner Einbildung Musik zu hören? Was erlebte Richie nicht alles in seiner Zeit vor der Inhaftierung? Wahrscheinlich mehr als die meisten anderen Männer in seinem Alter. Und die Musik begleitete ihn dabei immer. Ihm fallen nur die markantesten und Aufsehen erregendsten Ereignisse ein. Viel Spaß hatten Richie und seine Freunde immer in ihren gemeinsamen Stunden und sie waren eigentlich ständig zusammen. Es kann sein, dass er die Reihenfolge oder die Jahre etwas durcheinander bringt, denn sich wirklich alles in chronologischem Ablauf zu merken, war unmöglich, weil wirklich jeden Tag etwas Irres geschah. Damals, vor seiner Knastzeit, wenn er auf seinem Feuerstuhl durch die Gegend brauste, vielleicht sogar mit einem Mädchen auf dem Soziusplatz, das waren echt starke Zeiten! Ja, ja, Richie und die Frauen, das war ein ganz eigenes Thema …
Wenn Richie daran denkt, dass das jetzt zwangsläufig alles für lange, lange Zeit vorbei ist, wird ihm übel und er würde sein Elend am liebsten laut aus sich heraus brüllen. Durch eine Art Urschrei seiner ganzen Wut freien Lauf lassen, um sich Luft zu verschaffen. Richie ist oft nach weinen zumute, obwohl er weiß Gott kein Weichling ist, doch in seiner elenden und hilflosen Situation befindet sich Richie so manches Mal am Rande der Verzweiflung. Er ist immer öfter kurz vor dem Durchdrehen. Richie darf gar nicht daran denken, wo er sich befindet, wo er festgehalten wird, wozu er verdammt ist und wie sein Schicksal und die Wirklichkeit aussehen. Heute ist so wie gestern und morgen wird so wie heute sein. Am besten ist es für ihn, wenn er die Welt um sich herum vergisst, sich in Tagträumereien flüchtet und sich an Erlebtes erinnert, um davon zu zehren. Kopfkino halt.
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