Natürlich wollte Hieronymus wegen der immerhin möglichen Rolle des Autos in der unglücklichen Biografie seines Vorbesitzers dieses eigentlich längst umlackieren lassen, in ein heiteres Schwarz zum Beispiel. Außerdem hatte er den bei abendlichem Herbstnebel in einer ihm unbekannten Gegend abgestellten Wagen schon zweimal erst bei Tageslicht am nächsten Tag wiederfinden können. Aber bisher hatte er es schon jahrelang bei der Absicht belassen, und derzeit war ja auch gerade Frühling und mit herbstlichem Nebel nicht unbedingt zu rechnen. Stattdessen hatte er dem Wagen ein Cassettenradio samt einer ordentlichen Lautsprecheranlage verpassen lassen. Nur literarisch interessierte Schüler oder solche, die sich zwangsweise im Deutschunterricht einmal mit dem Herrndorf-Roman hatten beschäftigen müssen, sprachen Hieronymus gelegentlich auf sein Auto an. Meist mit der Frage, ob das denn auch wirklich ein Lada Niva sei, denn natürlich konnten sie sich ein solches Auto nur in hellblau vorstellen.
Aber auch Hieronymus´ Haupthaar war bereits deutlich angegraut, und obwohl er glaubte, mitten im Leben zu stehen, hatte er doch bereits das Alter erreicht, bei dem sich junge Referendarinnen schwer taten mit dem kollegialen Du.
2.
Hieronymus verließ schließlich seinen Wagen, schloss ihn sorgfältig ab und strebte dem Eingang der Schule zu. Es wurde jetzt auch höchste Zeit, denn wie immer musste er vor seinem Unterricht das Eine oder Andere als Klassensatz kopieren, was er am letzten Wochenende ausgebrütet hatte. Zum Glück lief er jetzt, kurz vor der Zweiten Stunde, nicht mehr so sehr Gefahr, unter die Räder der zahlreichen »Hubschrauber-Eltern« zu geraten, die ihre »Premium-Kids« die wenigen Meter von zuhause bis zur Schule fahren mussten. Hier, im »Wilden Osten« Hamburgs, verhielten sich die Eltern da nicht anders als in anderen Stadtteilen, nur dass hier als rollendes Statussymbol nicht allradgetriebene Kleinpanzer dienten, sondern möglichst luxuriöse Limousinen der Mittel- oder Oberklasse. Vor der ersten Stunde konnte das fußläufige Erreichen des Schuleingangs zu einem Überlebenstraining ausarten, da war man auch auf dem Bürgersteig nicht sicher, zumal dort die Fahrräder der Schüler zahlreich ihren Weg suchten.
Hieronymus trug heute sein dunkelblaues, nicht mehr so neu aussehendes Cord-Jackett mit einem gemusterten Hemd darunter zu Jeans unbekannter Provenienz und schwarzen, ledernen Halbschuhen. Aber was heißt »heute«? Wer ihn kannte, konnte sich nur schwer vorstellen, ihn selbst an einem Strand in Südeuropa oder in der Karibik anders gekleidet zu sehen als in einem dunkelblauen, nicht mehr so neu aussehenden Cord-Jackett mit einem gemusterten Hemd darunter zu Jeans unbekannter Provenienz und schwarzen, ledernen Halbschuhen, auch wenn der Rest der Menschheit dort gerade in dürftigster Badebekleidung unterwegs sein sollte.
Hieronymus unterrichtete gefühlt schon seit einigen Jahrhunderten an der Peter-Ustinov-Schule, die sich selbst verharmlosend als PUS abkürzte, weshalb sich irgendwann vor Urzeiten einmal die Schüler den noch viel mehr verharmlosenden und vielleicht gerade deshalb immer wieder von einer Schülergeneration zur nächsten tradierten Kosenamen »Pussies« gegeben hatten, die Fächer »Deutsch, also auch Geschichte«, wie er selbst bei Gelegenheit immer wieder gern einen seiner Lieblingsautoren, nämlich Günter Grass, zu zitieren pflegte. Hinzu kamen noch die Fächer PGW und Gesellschaft.
Nicht Eingeweihte werden sich zwar unter den beiden erstgenannten Fächern Deutsch und Geschichte etwas vorstellen können, auch wenn das mit größer werdendem Abstand zur eigenen Schulzeit immer weniger dem entspricht, was es in der Gegenwart bedeutete, aber vielleicht nicht bei den beiden letztgenannten Fächern. PGW stand für das Unterrichtsfach »Politik, Gesellschaft, Wirtschaft« und existierte an einer Stadtteilschule, um welche es sich bei der Peter-Ustinov-Schule ja handelte, nur in der gymnasialen Oberstufe. Es bezeichnete nach aktueller Nomenklatura lediglich das genauer, was früher unter dem Begriff »Gemeinschaftskunde« firmieren durfte, von manchen auch gehässig »Gemeinplatzkunde« oder, schon zutreffender, »Gemeinheitskunde« genannt.
Das Fach Gesellschaft erfreute stattdessen die Schüler zuvor in der Mittelstufe und war ein Konglomerat aus den Disziplinen Geschichte, Politik, Soziologie und Geografie. Ein staatlich organisierter Dilettantismus, denn es gab praktisch keine Unterrichtskraft, die in all diesen vier Wissenschaften gleichermaßen ausgebildet war, weshalb immer eine bis mehrere davon entweder vernachlässigt oder lediglich autodidaktisch unterrichtet wurden. Böse Geister vermochten hinter diesem geplanten Dilettantismus sogar politische Absicht zu vermuten, weil damit zwar formal umfassende politisch-sozial-ökonomische Bildung angeboten wurde, diese aber nur halb gebildete und deshalb relativ bequem politisch steuerbare Staatsbürger hervorbrachte. Aber natürlich dachten nur wenige und nur politisch Verwirrte so.
Der heutige Stundenplan versprach Hieronymus fünf Unterrichtsstunden Arbeitsfreude, von der Zweiten bis zur Sechsten Stunde. Anschließend würde er seinen Fluchtinstinkt aber noch eine Zeitlang unterdrücken müssen, denn dann musste er noch Zensuren und Fehlzeiten für einen seiner beiden Oberstufenkurse in einen Schulcomputer abladen, weil am folgenden Tag der »Eintragungsschluss« dafür bis »High Noon«, zwölf Uhr mittags, angesetzt war, er das dann deshalb nicht mehr nach Unterrichtsschluss erledigen konnte und nicht in den Pausen mit den »Last-Minute-Kollegen« um einen Platz an den Rechnern konkurrieren mochte.
Das Lehrerzimmer, das er anstrebte, war eines von zweien, über die die Peter-Ustinov-Schule verfügte, eins im alten Gebäude an der Straße und eins im Neubau genau gegenüber über den Innenhof hinweg. Dieses Gegenüber hatte den Vorteil, dass man von dem einen Lehrerzimmer aus nicht unbedingt immer in dem anderen anrufen musste, um zu erfahren, ob sich dort jemand Bestimmtes aufhielt, sondern oft konnte man es über den Hof hinweg auch einfach schon sehen. Neben dem alten Lehrerzimmer, mit diesem durch eine für gewöhnlich offen stehende Doppeltür verbunden, befand sich ein Arbeitsraum mit Computern und den beiden großen Druckern, wo Hieronymus noch rasch seine Materialien für den kommenden Unterricht vervielfältigen wollte.
Als er die Treppe in den ersten Stock hinter sich gebracht hatte, die bereits mit einigem Müll verziert war, stand er nun vor der geschlossenen Tür zum Lehrerzimmer. Diese wies weder eine Klinke noch einen Knauf oder ein Schloss auf, um sie öffnen zu können, sondern nur einen drehbaren Metallzylinder von etwa drei Zentimetern Durchmesser und ungefähr fünf Zentimetern Länge. Er war Bestandteil eines elektronischen Schließsystems und wurde mit einem »Pieper« bedient, das heißt entsperrt, welchen jede Lehrkraft in Form eines kleinen Diskus im Miniformat aus Plastik mit sich führte. Und wehe, wenn sie das nicht tat, die Lehrkraft, weil sie das Dings zum Beispiel zuhause vergessen hatte! Dann erst wurde ihr richtig klargemacht, wie viele Türen in der Schule ihr verschlossen sein konnten und auch blieben, sofern nicht zufällig gerade jemand in der Nähe war, der schließtechnisch aushelfen konnte. Nicht auszudenken, was passierte, wenn die Batterie in dem Gerät einmal leer sein würde! Auch ein Besuch der Toilette war dann nur noch mit Begleitung möglich.
Drückte man jedoch den »Pieper« im Normalfall des Vorhandenseins auf seinen gummiüberzogenen Schaltknopf in der Mitte und hielt ihn in die Nähe von besagtem Metallzylinder, so gab dieser ein kaum oder in Gegenwart von mehr als zwei Schülern schon nicht mehr hörbares Piepen von sich - daher der Name - und zeigte damit dem Benutzer an, dass das jeweilige Türschloss nun für einige Sekunden entsperrt sei, und man die Gelegenheit nutzen könne, die jeweilige Tür mittels eines mehr oder weniger beherzten Drehens des Metallzylinders zu öffnen. Natürlich durfte man es sich auch anders überlegen und das Drehen bleiben lassen, worauf nach den genannten Sekunden ein erneutes Piepen des Zylinders zum Ausdruck brachte:
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