Du hast viel Glück, dass dir dies noch einmal widerfährt, dachte er dankbar. Er hatte sich verliebt. Ohne Jonas hätte er sie nie kennen gelernt.
„Wir werden Gottes Hand dafür benutzen und mit ihr um die Suppenküchen kämpfen“, sagte der Weißbärtige plötzlich.
„Schanek versteht die Hand mit dem Finger ja als eine Mahnung“, erinnerte sich Singer.
„Na also. Wir werden mit der Hand an die Menschlichkeit mahnen. Wir werden die Öffentlichkeit daran erinnern, dass man nicht einerseits Geld für Kunstwerke, für Subventionen der Opernhäuser ausgeben und andererseits die Suppenküchen schließen darf. Du wirst sehen, die Menschen werden uns verstehen. Man wird uns helfen.“
„Versprich dir nicht zuviel davon. Sie sind nicht so wie du“, sagte Maja traurig. „Es ist ihnen gleichgültig, was mit euch geschieht. Ihr lebt nicht wie sie. Es mangelt ihnen an Empathie. Für die guten Bürger seid ihr nur Tagediebe und Schmarotzer. Sie werden euch nicht helfen.“
Doch Jonas widersprach energisch: „Oft sind die Menschen gleichgültig, habgierig und dumm. Und doch gibt es die Bibel, den Koran und die Lehren Buddhas. Erinnert euch, wie viel Spenden zusammenkamen, als es darum ging, den Tsunamiopfern zu helfen. Wir sollten es versuchen.“
„Was müssen wir tun?“, fragte Hermann und beugte sich eifrig über den Tisch. Seine Hand lag offen und fordernd vor Jonas, als wolle er das, was dieser nun sagen würde, ergreifen und sich dadurch retten.
„Wir sollten die Hand oder noch besser das Rote Rathaus in die Luft sprengen“, fuhr Robert dazwischen.
„Lass den Unsinn“, wies ihn der Weißbärtige zurecht.
Zum erstenmal erlebte Singer, dass Jonas auch ungehalten und barsch reagieren konnte.
„Damit würden wir uns nur so verhalten, wie sie es von uns erwarten. Nein, wir sollten bei der Einweihung dabei sein und darauf hinweisen, was die Hand bedeutet.“
„Aber wie willst du das anstellen?“, fragte Maja, noch immer nicht überzeugt.
„Darüber muss ich noch nachdenken. Aber morgen werde ich es wissen.“
„Gut. Wir werden hingehen. Vielleicht wird die Hand dadurch doch noch zu etwas Bedeutsamem.“
Sie redeten noch lange darüber, wie sie die Einweihung der Hand zu einer Demonstration für die Berber nutzen konnten. Und je später es wurde, desto phantasievoller wurden die Vorschläge. Robert wollte Stinkbomben und Feuerwerkskörper hochgehen lassen, Luischen mit Kolleginnen vor das Adlon ziehen. Friedel wollte den Herren vom Senat Brieftaschen stehlen und Hermann schlug vor, statt mit Hüten nun mit Suppenschüsseln Unter den Linden zu schnorren. Es war Giulio, dessen beweglichen Geist die Idee entsprang, die auch Jonas zusagte.
„Wir hängen an dem ausgestreckten Finger einen großen Kessel auf. Mit der Inschrift: Vergesst die Armen nicht. Finger weg von den Suppenküchen.“
„Oha, Nachfahre des göttlichen Leonardo, des begnadeten Michelangelo Buonarotti, das ist die Lösung“, rief Jonas und drückte Giulio an sich. „Das werden wir tun. Die ganze Welt wird darüber reden. Eugen, was meinst du? Wird sie das aufregen?“
„Zweifellos. So etwas bringt Schlagzeilen.“
„Und Maja, was meint unsere schöne Maja?“
„Ich bin dafür.“
„Aber wie wollen wir es anstellen?“, fragte Hermann mit seinem Sinn für das Praktische.
„Ganz einfach. Wir nageln den Kessel auf die Fingerspitze! Wenn er nicht aus massiver Bronze besteht, wird es gehen“, schlug Fränzchen vor.
„Ist er nicht“, bestätigte Singer.
„Der Finger soll einige Meter hoch sein“, gab Maja zu bedenken.
„Ich bin schon ganz andere Mauern hochgestiegen“, sagte Friedel schmunzelnd.
„Nicht mit einem Kessel.“
„Nein. Aber Fränzchen wird mir helfen. Wir werden gemeinsam den Finger hochklettern.“
Singer bestellte noch eine Runde vom Dunklen und der Weißbärtige nickte ihm zu.
„Du hast heute einen guten Grund dein Geld auszugeben. Du erlebst den Anfang einer neuen Bewegung. Die Berber, die Weggeworfenen wehren sich.“
„Wir werden aus der Hand ein Kunstwerk machen, das etwas bewirkt. Der Traum jedes Künstlers. Ich weiß nur nicht, ob sich Schanek darüber freuen wird“, sagte Maja lachend.
Eine Runde wurde von der nächsten abgelöst und das Bewusstsein etwas Großes gedacht und eingeleitet zu haben, sprach aus ihren Gesichtern. Singer war froh, dass er zu ihnen gehörte.
Es war nach zwei, als Maja sagte, dass sie gehen müsse, da sie am nächsten Tag schon am frühen Morgen eine Vorlesung habe. Singer stand wie selbstverständlich ebenfalls auf und verabschiedete sich von den Freunden. Niemand gab darüber seiner Verwunderung Ausdruck. Als er Jonas die Hand gab, zog ihn dieser an sich und flüsterte ihm zu, wie sehr er sich freue, dass ihm Maja gefalle.
„Mache sie glücklich, Eugen. Du bist vielleicht ihre Rettung.“
Diese Worte verstörten Singer ein wenig. Er fragte sich, wovor er Maja retten sollte. Sie sah so schön, so absolut selbstsicher und strahlend aus und er konnte sich nicht vorstellen, dass sie gerade ihn als Retter nötig hatte. Doch Singer wusste bereits, dass Jonas jemand war, der in die Menschen hineinsehen konnte. Angst befiel ihn und er legte schützend seinen Arm um Majas Schultern.
Sie traten aus dem Georgsbräu. Vor dem Lokal kämpfte der heilige St. Georg auf dem Denkmal gegen einen furcht–erregenden Drachen. Sieht so aus, als wenn jetzt auch die Berber eine Rüstung angelegt haben.
Maja legte ihren Kopf an seine Schulter und nun schien sie ihm gar nicht mehr so selbstsicher und sieghaft und strahlend, sondern zart und verletzlich. Er merkte, dass auch in ihr Angst war und es tat ihm weh.
„Wohin gehen wir?“
„Zu mir, Eugen“, sagte sie und sah zu ihm hoch. „Wenn du willst, gehen wir zu mir.“
Wie sich herausstellte, wohnte sie gar nicht weit von seinem Büro am Gendarmenmarkt entfernt, in einem alten Haus in der Markgrafenstraße. Sie musste eine schwere Holztür mit einem altertümlich großen Schlüssel öffnen. Neben dem steinernen Tor wachten Riesen, die wohl Atlas und Herkules darstellen sollten und sich mit der Last der Erde abmühten. Es ging durch einen Flur auf einen kleinen Hof, in dem Autos standen, zu einer Tür, die wieder den altertümlichen Schlüssel verlangte. Im Treppenhaus roch es nach Nüssen, was den geheimnisvollen Eindruck in dem flackernden Licht verstärkte. Im vierten Stock öffnete Maja die Tür zu ihrer Wohnung und sie fiel ihm in die Arme und schmiegte sich an ihn. Er spürte ihre Schenkel an seinem Geschlecht und ihre Lippen berührten sich wieder und wieder.
Die Wohnung war klein. Ein Zimmer mit Küche. In dem Zimmer waren ein Bett, ein kleiner Tisch und zwei Stühle mit verschlissenen Polstern. Für eine Frau sehr spartanisch. Drucke hingen an den Wänden, und er wunderte sich nicht darüber, dass es Stiche von Goya und Janssen waren. Daneben hatte sie eigene Zeichnungen geheftet. Natürlich von Jonas und seinen Freunden. Auch eine schöne Rötelzeichnung von Luischen war dabei.
Schweigend und etwas verlegen zogen sie sich aus und legten sich in das breite Bett. Einen Augenblick lang waren sie sich fremd. Doch dann berührte er ihre Brust und die Verbindung zwischen ihnen, der Strom, war wieder da. Ihr Mund berührte seinen Hals und seine Brust und seinen Bauch und dort, von seinem Nabel her, flüsterte sie, dass sie gleich gewusst habe, dass sie sich lieben würden.
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