Vergessen waren Wut und Zorn über das schlechte Zeugnis ihres Sohnes. Angst und Verzweiflung waren jetzt stattdessen die Triebfedern ihres Handelns. „Schnell, hol mir das Telefon!“, befahl Isolde ihrer Tochter, während sie ihre wuchtigen Hände auf die Brust von Frank legte und mit der Wiederbelebung begann.
Susi stürmte aus dem Raum und eilte die Treppen hinunter, wo sich gerade ihr Vater an den Aufstieg machte. Susi stieß in der Eile, völlig unabsichtlich natürlich, gegen Al, sodass dieser zu Boden geworfen wurde. Das kleine, magere Männchen kollerte lautstark über die Treppen nach unten und blieb für eine Weile benommen liegen.
Unterdessen hatte Susi das schnurlose Telefon erreicht, riss es von der Basisstation und hastete mit dem Gerät wieder nach oben zu ihrer Mutter.
Al war gerade dabei, sich aufzurichten und seine geschundenen Knochen zu sortieren, als sein kleines Töchterchen wie ein Wirbelsturm vorbeibrauste. Geschwächt von den vorangegangenen Ereignissen stand Al mit wackeligen Knien auf dem bunten Teppich und schwankte wie ein Seemann nach einer durchzechten Nacht.
Und da stürmte Susi heran ...
„Nicht schon wieder!“, hauchte Al verzweifelt, doch schon spürte er, wie er neuerlich einen kleinen Stoß abbekam, der ihm sofort die Standfestigkeit raubte.
Al landete ziemlich unsanft auf seinem besten Körperteil und die Tränen schossen nur so aus seinen Augen.
„Was habe ich denn nur verbrochen!“, klagte der arme Mann verzweifelt und rückte seine altmodische Hornbrille zurecht, die ihm auf die Nasenspitze gerutscht war.
Ächzend stemmte er sich in die Höhe und schnappte ein paar Mal nach Luft.
Währenddessen setzte Isolde ihre Wiederbelebungsversuche fort, nachdem sie telefoniert hatte.
Dicke Schweißperlen kullerten der dicken Dame über das Gesicht und voller Hingabe widmete sie sich der Lebensrettung.
Susi stand gespannt daneben und konnte ein Grinsen nur mühsam unterdrücken. Ihr Bruder spielte wieder eine tolle Komödie. Die bläuliche Farbe auf seinem Gesicht stammte aus seinem kleinen Chemielabor ...
Plötzlich gellten in der Ferne Sirenen auf. Sie kamen rasch näher.
Wenig später hielten einige Fahrzeuge mit quietschenden Reifen. Autotüren schlugen zu, Befehle schallten durch den Garten.
Und dann wurde die Eingangstür mit wuchtigen Tritten aufgestoßen.
Eine Handvoll bewaffneter und maskierter Männer stürmte das Haus.
Eine Spezialeinheit der Polizei ...
Al starrte fassungslos in die Mündungen der drohend auf ihn gerichteten Maschinenpistolen. Instinktiv hoben sich seine Hände.
„Was - was ist denn jetzt los?“, stieß der kleine Mann hervor und blickte genervt auf die vielen Polizisten, die in Lauerstellung vor ihm standen. „Wo sind die Einbrecher?“, herrschte ihn der Anführer der Elitetruppe an und trat einen Schritt nach vorn.
„We - welche Einbrecher?“, stotterte Al, der sich nicht mehr zu helfen wusste. In seinem Kopf drehte sich alles in rasender Geschwindigkeit. Ihm war kotzübel. Die Aufregungen der letzten Minuten - und jetzt dieser gigantische Polizeieinsatz. Nein, das alles war zu viel für diesen armen, kleinen Mann, und deshalb flüchtete sich Al völlig übergangslos in eine kleine Ohnmacht, dass er dieser Welt entkommen konnte.
Mit verdrehten Augen sank er in einen weichen Polstersessel, der ihn liebevoll aufnahm.
Die Polizisten sahen sich überrascht an, zuckten ihre Schultern und stürmten dann nach oben.
Isolde unterbrach ihre Wiederbelebungsversuche und wirbelte herum, als die Männer den Raum betraten.
In diesem Moment schien es Frank auf einmal etwas besser zu gehen. Der Junge schlug die Augen auf und stemmte sich in die Höhe.
„Frau Müller?“, fragte der Einsatzleiter mit scharfer Stimme, und die dicke Dame nickte bestätigend. „Ja, das bin ich. Aber ich habe Sie nicht gerufen. Ich wollte die Rettung für meinen Sohn, dem es plötzlich so verdammt schlecht gegangen ist ...“
„Dann haben Sie die falsche Nummer erwischt!“, antwortete der Einsatzleiter mit deutlich erkennbarem Vorwurf in der Stimme.
„In der Eile haben Sie vermutlich die falschen Ziffern eingetippt. Es sind also keine Einbrecher in Ihrem Haus ...“
„Nicht, dass ich wüsste ...“
„Okay, also Entwarnung, Jungs!“, sagte der Einsatzleiter und zupfte seine Maske herunter, sodass man sein Gesicht sehen konnte. Seine Männer folgten seinem Beispiel.
„Ich glaube, dass es Ihrem Sohn wieder etwas besser geht. Oder soll ich jetzt vielleicht doch noch den Notarzt verständigen?“
„Nicht nötig, Genosse Kommissar!“, erklärte Frank mit schwachem Lächeln und machte eine beschwichtige Handbewegung. Nur die bläuliche Gesichtsfarbe schien nicht ganz zu seinem Allgemeinbefinden zu passen. Aber dies fiel im Moment keinem auf.
Die Polizisten zogen sich nach einigen Formalitäten wieder zurück, schwangen sich in ihre Autos und fuhren davon.
Frank wischte sich in einem unbeobachteten Augenblick die blaue Farbe aus dem Gesicht und strahlte wie ein Honigkuchenpferd.
„Danke, Mam!“, sagte er dann voller Inbrunst, wobei er sich stark zusammenreißen musste, um nicht laut zu lachen. „Du hast mir ganz bestimmt das Leben gerettet.“
„Nicht der Rede wert!“, winkte die dicke Dame ab und fuhr ihrem Sohn durch die feuerroten Haare. „Du hast mir einen ganz gehörigen Schrecken eingejagt. Aber nun ist ja alles gut.“
Kein Wort mehr vom schlechten Zeugnis - nur das Überleben zählte.
„Wo ist denn Dad?“, erkundigte sich Isolde und trat auf den Flur hinaus.
„Hier, Mam!“, rief Susi von unten herauf. „Ich habe ihn gefunden. Dad schläft tief und fest. Wahrscheinlich hat er von der ganzen Aufregung gar nichts mitbekommen.“
„Na, warte!“, schnaubte Isolde, und ihr Gesicht nahm wieder einen energischen Ausdruck an. Mit schnellen Schritten eilte sich nach unten und blieb vor ihrem Ehemann stehen, der still und verklärt vor sich hindöste.
Doch aus diesem Traum wurde er ziemlich unsanft geweckt, als ihn Isolde gehörig durchschüttelte. Die Knochen des schmächtigen Mannes klapperten zum Herzerweichen. Verstört machte Al die Augen auf und zauberte ein verzerrtes Grinsen auf sein hageres Gesicht. „Hallo, Isolde, wie geht’s denn so?“
„Mir geht’s gut! Das siehst du doch! Und dir wird’s auch gleich besser gehen!“, versprach die liebe Ehefrau und schüttete wenig später eine Schüssel voll kalten Wassers ins Gesicht ihres Angetrauten, dass dieser erschrocken nach Luft schnappte und sich blitzschnell aufrichtete. „Siehst du, so eine kleine Kur wirkt wahre Wunder!“, freute sich Isolde und stellte die leere Schüssel auf die Seite. „Jetzt bist du bestimmt nicht mehr so müde, Al! Oder? Zum Schlafen haben wir jetzt auch gar keine Zeit. Wir müssen uns beeilen, Al! Schließlich wollten wir zu Mittag wegfahren. Die Koffer sind gepackt. Worauf warten wir dann noch?“
Knatternd und spuckend setzte sich das alte Auto in Bewegung. Eine riesige Rußwolke stob aus dem Auspuff. Der linke Kotflügel schepperte.
Am Steuer des vorsintflutlichen Wagens saß Isolde Müller und knüppelte das rostige Gefährt bedenkenlos durch die stillen Straßen der Bungalowsiedlung. Der Gepäcksträger auf dem Dach quoll über. Die Plane, die über den ganzen Krempel gespannt war, knatterte laut im Fahrtwind.
Isolde Müller schaltete das Autoradio an und suchte einen Sender mit rhythmischer, fröhlicher Musik.
„So, dann wollen wir unseren Urlaub schon von Anfang an genießen!“, verkündete die wohl beleibte Dame, die kaum Platz hinter dem Lenkrad fand.
Neben ihr saß Al, so klein und schmächtig, dass er fast zwischen den Sicherheitsgurten hindurchrutschte. Krampfhaft umspannten seine knochigen Finger den Haltegriff aus Plastik, und seine Füße stemmten sich fest gegen den Wagenboden. Das Oberhaupt der Familie Müller fühlte sich alles andere als wohl. Unruhig irrte sein Blick von Isolde auf die Straße und wieder zurück. Bei jeder Kreuzung schickte Al ein Stoßgebet Richtung Himmel. Doch die ihm anvertraute Ehefrau schien dies nicht im Geringsten zu stören. Isolde nahm die Kurven mit quietschenden Reifen und drückte ihre riesigen Füße so fest aufs Gaspedal, dass der alte Motor gequält aufheulte.
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