„Wie lange machst du das hier schon?“, fügte Masha hinzu, nachdem sie diese Veränderung in der Mimik ihrer Gesprächspartnerin bemerkte, die nur in Unterwäsche bekleidet im Türrahmen stand.
„Fünf Jahre lebe ich schon hier. Und so lange mache ich das hier bereits. Zuvor habe ich in Deutschland gelebt. Und davor in Sankt Petersburg.“, antwortete sie.
„Hast du nur männliche Kunden?“ Masha hatte nur männliche Kunden. Sie suchte sich diese aber genau aus und war, anders als die junge Frau, die ihr gegenüberstand, nicht im klassischen Sinne eine Prostituierte. Sie verstand sich vielmehr als Künstlerin, Erforscherin der menschlichen Psyche, Sexualität und genoss ihre Freiheit. Wenn sie dabei auch noch gut ihr Leben finanzieren konnte, sah sie keinen Nachteil für sich.
„Wie du dir denken kannst, sind Frauen eher eingeschüchtert oder angeekelt, von der Form der Prostitution hier in Amsterdam. Diese Fenster, die auch als Auslage für Fleisch dienen könnten, als wäre man ein Stück Wurst beim Metzger, stoßen Frauen ab, die es für eine reine Darstellung des Patriarchats halten. Ich sehe das anders. Auf der einen Seite ist das vielleicht richtig, was diese Frauen denken, aber auf der anderen bedeutet es für mich etwas mehr, etwas Intimeres, etwas Persönlicheres. Eine Art Selbstbestimmtheit. Ich fühle mich frei dabei, über meinen Körper selbst entscheiden zu können und möchte mir das weder von einem Mann noch von einer Frau nehmen lassen.“, Nastassja lachte.
„Ich weiß genau, wie du dich fühlst.“, Masha pausierte kurz und blickte zuerst zur Seite, dann in Nastassjas Augen und drückte ihr hundert Euro in die Hand. „Würdest du bitte die Vorhänge schließen?“
Nastassja lächelte sie an und schloss die Vorhänge. Was dahinter genau geschah, bleibt ein Geheimnis der beiden. Sie fühlten, dass es ungewöhnlich war. Ungewöhnlich, aufregend und am Ende doch vertraut. Was auch immer sie getan haben, erst mehrere Stunden später öffneten sich die Vorhänge wieder und Nastassja verabschiedete Masha mit einem innigen Kuss auf den Mund.
„Wenn du bis morgen Mittag warten kannst, kann ich dir die Stadt zeigen. Ich komme mit ins Museum.“, antwortete Nastassja.
„Danke, gern, Stacy“, Masha war selbst noch ganz betrunken von Nastassjas Kuss, der sie fühlen ließ, als hätte sie zu viel Wein getrunken.
„Wir treffen uns morgen um zwölf Uhr genau hier“.
Die beiden Frauen warfen sich noch einen Luftkuss zu und lachten wie zwei Schulmädchen, bei diesen albernen Gesten. Es schwebte eine Vertrautheit zwischen den zwei Frauen. Masha warf eine Hand in die Luft, wie in einer verschworenen Gemeinschaft. Sie hatte ihr davon erzählt, dass sie selbst in Deutschland als Prostituierte arbeitete, malte und Kunst studierte. Und Nastassja hatte ihr erzählt, dass sie damals vor zehn Jahren in einen jungen Mann mit dem Namen Viktor verliebt war, für den sie nach Deutschland kam. Er hatte ihr die Einreise ermöglicht, nur mit dem Ziel das junge, hübsche und naive Mädchen, dass sie damals war, in die Zwangsprostitution zu manövrieren und, ohne ein Wort Deutsch oder Englisch zu können, damit in seine Abhängigkeit. Ihre Liebe zu ihm war damals so groß, dass sie sich zuerst, unter seiner falschen Vorgabe von finanzieller Not, für einen seiner so genannten Freunde auszog, dann für einen weiteren… dann für den Nächsten, bis er ihr Zuhälter war, der sie wie eine Zitrone sah, die man auspressen musste, solange sie noch frisch war.
Als die körperliche und seelische Gewalt über die Jahre zunahm und die große Liebe zu Viktor immer rapider zurückging, wandte sie sich an die Polizei. Nachdem Viktor von uniformierten Kräften abgeholt wurde, stellte sich heraus, dass er mehrere Mädchen wie Nastassja „besaß“ und sie alle dazu zwang ihm seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Einige von ihnen waren, wie sie selbst, als sie ihn kennenlernte, gerade achtzehn Jahre alt und fast noch Kinder.
Von ihrer plötzlichen Freiheit überwältigt, überlegte sie, was sie mit ihrem Leben anstellen sollte. Sie hatte keine echte berufliche Erfahrung und kein Studium vorzuweisen, auch wenn sie wusste, dass sie hart arbeiten und sich engagieren konnte. Zurück nach Sankt Petersburg konnte sie, aus Scham, sich selbst in diese Situation gebracht, sich ihren Gefühlen zu stark hingegeben und nicht auf die lieb-gemeinten Ratschläge ihrer Familie gehört zu haben, nicht mehr gehen. Sie war verliebt, was sollten ihre Eltern dagegen tun? Zu Anfang schrieb sie in der vermeintlichen Beziehung mit Viktor, beruhigende, fröhliche E-Mails an ihre Eltern, dass es ihr gut ginge und sie alles hatte, was sie brauchte. Dies behielt sie auch in den Folgejahren bei. Ihr Herz zog sich jedes Mal etwas zusammen, jedoch mit der Zeit immer weniger, wenn sie diese E-Mails schrieb. Das war ihre Lüge, die sie als notwendig empfand, damit ihre Eltern sich nicht sorgten.
Da ihr nichts Besseres in den Sinn kam, was sie zu bieten hatte, als ihren Körper, ging sie in die einzige Stadt, die ihr einfiel, in der sie die Verantwortung für sich selbst wiederfinden konnte, wobei sie die Verantwortung für ihre Sexualität und ihren Körper, obwohl es verrückt klang, als selbstständige Prostituierte wieder fand.
*
Masha war aufgeregt, wie lange nicht mehr, als sie sich am Folgetag auf den Weg zum Treffpunkt machte. Sie wartete keine fünf Minuten als Nastassja aus einer der kleinen Seitenstraßen herangelaufen kam, die durch die schiefen Häuser der Stadt, in ihrer Bauweise als typisch für Amsterdam kategorisiert werden können. Amsterdam wurde auf weichem Boden gebaut und die alten Häuser wurden durch Holzpfeiler gestützt, die teilweise in den späteren Jahrhunderten durch festeres Material ausgetauscht wurden. Manche Pfeiler konnten jedoch nicht ausgetauscht werden, sodass sie einsanken und die Häuschen schief wurden. So bildeten sie hier und da ein Stadtbild, dass den Eindruck machte, jemand hätte die Welt ein Stück weit zur Seite gerückt. Masha lächelte und ihre Augen strahlten neugierig, als die Frau, die sie keine vierundzwanzig Stunden vorher kennengelernt hatte, näherkam. Nastassja lächelte zurück und die beiden umarmten sich bei der Begrüßung, nachdem sie sich einen flüchtigen Kuss gaben.
In der Eremitage angekommen, ließen sie sich sehr viel Zeit, unterhielten sich über die unterschiedlichen Bilder, Maler und auch die Dinge, die sie dabei fühlten, was sie daran faszinierte, was die Farben, Formen und die verschiedenen Gesichtszüge der Menschen auf den Bildern in ihnen bewirkten, und wie sie die Zeiten, in denen sie gemalt wurden, portraitierten.
Auf dem Weg zu Bruegels Turmbau zu Babel kamen sie an einer Sonderausstellung vorbei, die Nastassjas Aufmerksamkeit auf sich zog.
„Das sieht interessant aus. Lass uns dort hingehen, Masha.“, Nastassja zog sie sanft an der Hand in den Gang mit der Überschrift „Revolution through time“, dass über dem Banner „Exhibition Extended“ stand.
Ausgestellt waren verschiedene Gemälde, die die unterschiedlichsten Revolutionen, Umstürze von Königen und Adelshäusern, Volksaufständen, Bürgerkriege und Umwälzungen gesamter Staaten darstellten. Bei einem Gemälde, dass den Sturm auf den Winterpalast in Sankt Petersburg im Zuge der bolschewistischen Oktoberrevolution am 7. November 1917 darstellte, hielt Nastassja inne und betrachtete die Dynamik, die Emotionen und den Willen der Revolutionäre zur Befreiung, die von dem unbekannten Maler fast lebensecht dargestellt wurden, als wäre er selbst dabei gewesen. Es qualmte und brannte auf dem Gemälde. Der Lärm war förmlich zu hören. Masha stand neben ihr und hielt fest ihre Hand.
„Ich kenne diesen Platz. Der Winterpalast ist heute ein Teil der Eremitage in Sankt Petersburg“, sprach Nastassja. „Dort war ich oft.“ Und wenn Masha sich nicht täuschte, sah sie in Nastassjas Augenwinkel eine feuchte Stelle, die ihre Sehnsucht nach ihrer Heimat, zu der sie aus Scham nie wieder zurückkehren würde, für einen kurzen Moment zum Ausdruck brachte.
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