Aus mythologischer Sicht als Verwurzelung in die Vergangenheit, mit der Weide als Baum der Trauer und einem melancholischen Geist dabei, der sich in Richtung der Ahnen streckt. Viele weitere Bedeutungen hatte er später recherchiert, doch so gut er diese Geliebte kannte, konnte er sich keine der Erklärungen bei ihr vorstellen. Er wäre enttäuscht gewesen, wenn er erfahren hätte, dass sie es aus reiner Ästhetik tat. Das konnte er sich bei bestem Willen nicht vorstellen. Nicht bei einem Tattoo, dass den ganzen Körper so vereinnahmt. Er hatte sie wirklich nie gefragt und ärgerte sich im Nachhinein, es vergessen zu haben, was die Trauerweide für sie bedeutete. Die Justitia hingegen, als Frau mit Augenbinde, Schwert und Waage dargestellt, symbolisiert in erster Linie Gerechtigkeit. In der linken Hand die Waage, die eine sorgfältige Abwägung des Urteils darstellte und in der rechten Hand das Schwert, mit dem das Urteil mit notwendiger Härte durchgesetzt wurde. Die Augenbinde der Justitia wurde um das Jahr 1500 hinzugefügt, um die Blindheit der Justiz zu verspotten, bevor sie später als Unparteilichkeit interpretiert wurde. Nun war es zu spät sie beide zu fragen, was sie antrieb ein Symbol für ihr ganzes Leben auf die Haut stechen zu lassen und was es für sie persönlich bedeutete. Die eine, deren Gesicht er längst vergaß, deren Trauerweide ihm jedoch für immer im Gedächtnis bleiben würde und die andere, die die Gerechtigkeit auf ihrem Rücken trug.
„Frag mich nicht nach der Freude,
frag nicht nach Glück.
Denn ich weiß, was Sorge ist.“
- Mädchen der Nacht, Dr. Jekyll and Mr. Hyde
Die roten Lichter spiegelten sich in ihren Augen, als sie durch die Vergnügungsmeile in der Amsterdamer Innenstadt spazierte. Sie war vor wenigen Stunden erst mit dem Zug angekommen, hatte ihre Taschen in ein günstiges Hostel gebracht, in dem sie auf Nachfrage der Mitarbeiter, wie lange sie denn bleiben würde, „für ein paar Tage“ antwortete und sich sofort auf den Weg gemacht, die Atmosphäre und die Persönlichkeit der Stadt einzuatmen. Die kleinen, engen Gassen und die Grachten, die sich durch die Stadt schlängeln gefielen ihr besonders. Die Geschichte der Stadt und deren Aufbau und Niedergang reflektierten sich in ihrer Architektur. Und auch wenn Amsterdam inzwischen eine Touristenmetropole geworden ist, die eingefleischte Niederländer tolerieren, aber ihr nicht mit sonderlicher Begeisterung begegnen, wenn junge Erwachsene, Jugendliche, Abschluss- und Junggesellenabschiede diese Stadt für ihre Freigeistigkeit und Freizügigkeit in Sachen Marihuana und Prostitution schätzen.
Dies beschreibt die eine Seite von Amsterdam. Die andere hingegen kann man besonders am Tag erfahren, wenn sich die Idylle und Ruhe auf die Häuser setzt und sich das, durch die Stadt schlängelnde Gewässer, auf die Seelen der Menschen legt und sie damit mit einem melancholischen Zauber bekleidet. Wie, als wäre diesen Menschen mehr bewusst, dass das Leben im Fluss ist und man nie zweimal in denselben steigt.
Masha war einige Meter vor einem der weltberühmten Schaufenster stehengeblieben, in denen die Prostituierten Erotik, das Versprechen auf ein paar Augenblicke abseits der Wirklichkeit und sich selbst feilboten. Ihr Blick schweifte über einen, in rotes Licht getauchten, makellosen Körper, der in einem jungen Gesicht endete, das die vorbeiziehenden Männer mit verführerischem Lächeln und koketter Mimik auf sich aufmerksam zu machen versuchte. Ab und an blieb einer der Passanten stehen und flirtete mit dem Mädchen im Schaufenster, das freundlich, höflich und verspielt zurückgestikulierte und lächelte. Ein paar davon ließen sich auch von ihr hereinbitten. Das Mädchen schloss dann die Vorhänge vor ihrem gemieteten Zimmer. Masha war fasziniert, obwohl sie selbst wusste, was nun hinter dem Vorhang geschehen würde.
„Ihm das Gefühl zu geben, gerade wäre keine andere Frau in ihn verliebt“, dachte sie sich und wusste doch, dass es eine schöne Illusion sei. „Zu lügen bedeutet nicht nur, nicht die Dinge zu sagen die sind. Zu lügen bedeutet auch, mehr zu sagen, als ist.“ Sie verstand die Notwendigkeit dieses Spiels, da doch Nähe, Geborgenheit und Aufmerksamkeit, nach der sich alle Menschen sehnen, einen zentralen Aspekt, neben der Triebbefriedigung, bei der Prostitution spielen. Manchmal kam es sogar vor, dass sich Masha auch nur zu einem Abendessen mit ihren Freiern traf und dafür schon dankbar bezahlt wurde. Und so lernte sie über die Jahre das Spiel der schönen Lügen zu perfektionieren.
Als der Vorhang nach einer knappen viertel Stunde wieder aufgezogen wurde, stand Masha immer noch da und das Mädchen im Fenster sah sie lächelnd und verlegen an. Sie winkte sie zu sich heran und sprach sie auf Englisch an.
„Is there something I can do for you?“, ihr Akzent war stark osteuropäisch geprägt und ergänzte zusätzlich. „What languages do you speak?“.
„German and English.“, antwortete Masha, die beim Näherkommen bemerkte, dass das Mädchen älter zu sein schien, als sie von weitem aussah. Eine gemeinsame Sprache ist der Schlüssel zur Welt und Gott tat gut daran, die Menschen zu bestrafen, die in ihrer Hybris wie er sein wollten und einen Turm bauten, der bis in den Himmel reichte. Gott zerschlug den Turm in Zorn und verdammte die Menschen fortan in unterschiedlichen Stimmen zu sprechen und somit die Verbindung zueinander zu verlieren. Die Geschichte vom Turmbau zu Babel faszinierte Masha schon sehr lange und die Darstellung dieses Mythos‘ war eines der Gemälde, die sie sich in einem der unzähligen Museen Amsterdams ansehen wollte.
Eine schöne, tausende Jahre alte Geschichte, um die Entstehung der verschiedenen Sprachen der Menschheit zu erklären. Beim Erlernen einer neuen Sprache öffnet sich einem eine völlig neue Welt, dachte Masha häufig, die nicht damit gesegnet war mit einer zweiten Muttersprache aufzuwachsen, selbst wenn ihr Name auf osteuropäische Wurzeln schließen ließ. Deutsch und Englisch und ein bisschen Latein. Zu mehr hat es bei ihr nicht gereicht. „Aber wer braucht heute schon Latein?“ Den ursprünglichen Zweck der Sprache, nämlich die Kommunikation und Verständigung untereinander, erfüllte sie, wie andere tote Sprachen, nicht mehr. „Dafür beherrsche ich die Sprache der Bilder.“, sagte sie sich oft als Entschuldigung dafür, nicht noch eine weitere Sprache zu erlernen, obwohl sie fasziniert davon war, was eine Sprache mit einer Kultur und den Menschen in dieser Kultur machte. Sie schafft eine Verwurzelung in die jeweilige Kultur und gehört, genauso wie Geschlecht, Alter und Hautfarbe zu den naturgegebenen und unverrückbaren Identifikationsmerkmalen. Sie gibt Identität und hilft, den Menschen, andere Menschen innerhalb eines kurzen Moments einschätzen zu können um dadurch Nähe oder Distanz zu provozieren.
„Mein Name ist Nastassja.“, antwortete das Mädchen, das sich in Mashas Augen inzwischen in eine junge Frau mitte-ende Zwanzig verwandelt hatte. „Bist du zum ersten Mal in Amsterdam?“, fügte sie hinzu.
„Ja, heute ist mein erster Tag überhaupt hier. Ich wollte mir die Stadt ansehen. Wegen der Kunst, wegen der Freiheit, wegen der Offenheit hier.“, antwortete sie, verblüfft über das gute Deutsch von Nastassja, obwohl der starke Akzent dennoch unverkennbar war.
„Welche Art Kunst interessiert dich besonders? Museen gibt es hier viele.“ Die junge Prostituierte war aufmerksam interessiert neben ihrer natürlichen Hilfsbereitschaft.
„Die niederländische Renaissance. Ich will mir den Turmbau zu Babel in der Ausstellung von Bruegel ansehen. Das Gemälde müsste in der Amsterdamer Eremitage ausgestellt sein.“, erzählte sie frei heraus und Nastassja zog eine Augenbraue hoch, als wollte sie sagen, dass sie überrascht war, dass diese junge Frau eine starke Affinität zur klassischen Malerei hatte und genau wusste, was sie wollte. Sie selbst saß in ihrer Freizeit ebenfalls gerne auf einer der vielen Bänke in den Museen der Stadt und ließ die Gedanken schweifen, während sie auf die Gemälde blickte und ihren Job, als auch die Zeit selbst vergaß. Diese Momente hatten etwas Magisches, wenn es ihr gelang, die anderen Besucher auszublenden und sich in einem der Kunstwerke zu verlieren.
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