Bis zu diesem Tag als Masha ihr Kunststudium aufnehmen und in die große Stadt ziehen wollte, verband die beiden eine jahrelange Freundschaft, die sich jedoch im Laufe der letzten Jahre aufgrund der verschiedenen Lebensentwürfe unhörbar auseinanderlebte. Manchmal hört man ein leichtes Flüstern, dann ein Grollen, bevor sich Freundschaften auseinanderdividieren. Häufig jedoch ist es so, wie ein bekannter sozialpsychologischer Effekt es beschreibt: Wir mögen das, was wir kennen und fühlen uns damit vertraut. Je häufiger wir einen bestimmten Menschen sehen, desto näher fühlen wir uns mit ihnen verbunden, desto vertrauter werden sie uns.
So war es auch kein Wunder, dass Masha und Annika, die nur wenige Straßen auseinanderwohnten, in Kontakt kamen, da sie in dieselbe Schule gingen, dort nebeneinandersaßen und auch ihre Pubertät zusammen verbrachten. Freundschaft, und das macht man sich zu selten bewusst, entsteht nicht aus ähnlichen Eigenschaften und Charakterzügen, Neigungen oder Hobbys. Diese bedingen nur die Häufigkeit, mit denen man sich trifft. Das Fehlen von Nähe und Frequenz der Begegnung ist ein häufiger Grund, einen Freund zu verlieren. Der zweite Aspekt, wieviel man dann in eine Freundschaft investiert, wenn man sich im ersten Moment nicht unsympathisch ist. Man arbeitet an der Freundschaft und spielt das Spiel aus Geben und Nehmen häufig auch unbewusst. Vielleicht war das auch der Grund, wieso Masha Schwierigkeiten hatte, in der großen Stadt mit den unzähligen Gesichtern, Freunde zu finden. Sie hatte so viele Projekte, so viele Ideen, so viele Kunden, die ihr, auf die eine oder andere Art ihren Lebensunterhalt und ihr Studium finanzierten. Ihr unbändiges Gefühl von Freiheit, dass sie antrieb, sodass sie selten länger als eine kurze Episode mit Männern zu tun hatte, obwohl sie viele von ihnen interessant und inspirierend, doch nie zu geeignet für sie fand, um sich auf etwas Festes einzulassen, sorgte dafür, dass sie sich nie zu fest an einen Menschen hielt. Außerdem liebte sie ihre Freiheit und die Kunst. „Mit meiner Art zu leben würde er sowieso nicht zurechtkommen“, dachte sie sich dann, wenn sie doch mal jemanden über mehrere Monate hinweg regelmäßig traf, ihn jedoch nie ganz an sich heranließ, weil sie immer das Gefühl hatte, dass ein Mann es nicht verstehen kann, was es bedeutete, seinen Körper zu verkaufen, seine Triebe auszuleben, seinen Geist und Körper dadurch zu befreien, dass man ihn mit den verschiedenen Erfahrungen und Eigenarten, Neigungen, Weisen, wie man jemanden anfasst und wie man angefasst wird, zu konfrontieren und so viel mehr Eins mit dem Kosmos wird, der einen umgibt. Für sie war es jedes Mal eine aufregende, fast transzendente Erfahrung, den Körper eines anderen kennenzulernen und herauszufinden, wie er funktionierte, für die sie sich dann auch gerne bezahlen ließ. So hatte sie ein bewegtes Leben mit vielen Unstetigkeiten und wechselnden Menschen, seitdem sie sich in das Leben in der Freiheit im Schatten der Großstadt verliebte, die ihr eine befreiende Anonymität versprach.
Ihre feste Konstante über die ganze Zeit, war immer nur Annika, mit der sie regelmäßig telefonierte, die über all die Jahre immer noch in dem Örtchen wohnte, in dem sie beide aufwuchsen und deren Leben sich inzwischen so fundamental von dem ihrigen unterschied. „Ich verspreche dir“, hörte Annika Masha noch rufen, bevor sie mit dem kleinen Auto, das all die kleinen und großen Dinge enthielt, die Masha mitnehmen wollte und zum Leben brauchte, wieder in Richtung des Örtchens davonfuhr, aus dem sie kam. „Ich ruf dich regelmäßig an. Es wird sich nichts ändern.“ Und so, mit dem Versprechen auf den Lippen und dem Gedanken täglich zu telefonieren und trotz der Distanz immer für die andere da zu sein, trennten sich die Wege der beiden. Die eine schwamm in den großen Teich, um ein größerer Fisch zu werden und die andere machte sich, wie ein Vogel, ein gemütliches Nest.
Episode 3 – Mit Gerechtigkeit auf dem Rücken
„Die wahre Freiheit ist nichts anderes als Gerechtigkeit.“
- Johann Gottfried Seume
Im Gegensatz zu Mashas Wohnung, die ein liebevolles Chaos und den Geist ihrer Kreativität und Wildheit beherbergte, zeigte Samuels Wohnung, die sich in einem modernisierten Altbauhaus, mit hohen Decken und einer unverschämt ausladenden Treppe, die in die obersten Stockwerke führte, ein eher nüchternes Bild. Samuel gehörte eine der wenigen Wohnungen in diesem Gebäude. Große Räume mit wenigen Möbeln waren charakteristisch für ihn. Stilvoll aber nüchtern wirkte auch das deckenhohe Bücherregal in dem verschiedene Bildbände, Fach- und Philosophiebücher neben Bildern in schlichtem Rahmen von ihm und seiner Familie und der obligatorischen weißen Büste irgendeines Gelehrten oder Schriftstellers standen, den er aus Gründen, die er nicht mehr wusste, toll fand. So wie viele Menschen, die eine kleine Bibliothek zuhause stehen haben, wurde er häufig von seinem Besuch gefragt, ob er denn all diese Bücher gelesen habe. „Die meisten davon. Einige davon nur quer.“, war dann seine ehrliche Antwort, wenn er den Besuch nicht beeindrucken wollte. Wenn er ihn beeindrucken wollte, war ein beiläufiges „Natürlich.“ seine Antwort. Der Besuch, den er beeindrucken wollte, war in den meisten Fällen weiblich.
Der warme Wasserstrahl, den er sich in sein Gesicht hielt und dessen Ausläufer als unzählige Rinnsale seinen Körper hinunterliefen und den Weg in den Abfluss fanden, hatte den Zweck ihn für den Tag bereit zu machen. „Heute klappt das nicht.“ dachte er, während er, mit einer Hand an den Fließen des schwarzen und edel gekachelten Bades gestützt, beobachtete, wie das Wasser genauso schnell verschwand, wie es gekommen war. Wie die Begegnungen in unserem Leben, die uns ein Stückweit den Weg begleiten, sich manchmal zu einem großen Rinnsal vereinigen, um dann gemeinsam den weiteren Weg in die Schwärze des Nichts der Ewigkeit zu finden. Anders als die Rinnsale, die sich, wenn sie sich vereinigt haben, nicht mehr trennen, vermögen es die Menschen jedoch, sich voneinander zu trennen, um den Weg allein oder mit jemand anderem fortzuführen. Sie mäandern über Hügel, Berge in Täler und Tiefen, kommen sich näher, entfernen sich, vereinigen sich und trennen sich wieder. „Heute wird einer der Tage, an denen mich die Müdigkeit den ganzen Tag begleiten wird.“ Die Düsen seiner Regenwalddusche benetzten sein Gesicht weiterhin mit Wasser, während er die Augen schloss und sich weiter seinen Gedanken hingab. Er dachte an die Frau, mit der er den gestrigen Abend und bis heute Morgen verbrachte und die er die halbe Nacht beim Schlafen beobachtete.
Ihr Körper hob und senkte sich bei jedem Atemzug leicht. Ihr Haar war durch den Schlaf die Nacht hindurch wild und zerzaust worden, sodass er ihr Gesicht nicht sah, sobald sie sich im Schlaf auf den Bauch drehte. Nur die blinde Justitia, in einer Hand das Schwert und in der anderen die Waagschalen, entblößte ihm einen Teil ihrer Persönlichkeit. Wenn man sich so ein Tattoo stechen lässt, bedeutete es meistens etwas. Als sie gestern nach einem schönen Abend wild umschlungen ins Bett gingen, vergaß er sie zu fragen, wieso gerade die Justitia ihr Schulterblatt schmückte. Wieso das Sinnbild für Gerechtigkeit? Was war ihr widerfahren, wonach strebte sie, was trieb sie an, wen oder was begehrte sie, was waren ihre Ziele? Viele Frauen, mit denen er schlief, hatten Tattoos und diese reichten von Zeichen der Unendlichkeit, japanischen Schriftzeichen, Gesichtern von geliebten Menschen, Namen, bis hin zu abstrakten Bildern. Im Laufe der Jahre fand er eine diebische Freude daran, den aktuellen Trend anhand der Tattoos zu erraten. Der Rücken einer Geliebten, die er einmal hatte, war fast vollständig mit den Wurzeln, Ästen und dem Stamm einer Trauerweide zugestochen. Bäume symbolisieren Beständigkeit gegen die Zeit und gegen Unwetter. Die Trauerweide, fand er später heraus, hatte noch weitere Bedeutungen. Als Memorial an einen geliebten Menschen, um dessen Leben und Tod zu gedenken.
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