»Ich dachte, dass ich offen mit dir reden könnte, so wie damals, bei der Sache mit Fabio. Vergessen?«, bat er Jaíra gekränkt und reichte ihr seine Hand.
Jaíra litt selber darunter, dass ihre Freundschaft einen Riss bekommen hatte, sie ärgerte sich, dass sie so heftig reagierte, als Hans mit ihr über Adriano geredet hatte. Gerne ergriff sie daher die Gelegenheit und nickte.
»Ich möchte, dass du nachher mitkommst, um die Ärztin zu begrüßen.« Bittend sah er Jaíra an. »Stell dir vor, was sie für Augen machen wird, wenn hier jemand deutsch mit ihr redet, das wird bestimmt eine tolle Überraschung für sie.«
Jaíra nickte. Sie freute sich, dass Hans an sie gedacht hatte.
»Ich werde dich vorstellen und du wirst sie begrüßen.« Hans war erleichtert, dass Jaíra zusagte.
Gerne hätte Jaíra mit Hans geredet, es machte ihr immer noch zu schaffen, dass er sie dieses Mal nicht verstand, dass sie mit ihrer großen Liebe glücklich werden wollte. Es war eine Wand zwischen ihnen, von der sie sich wünschte, dass sie zusammenbrechen würde. Vielleicht war jetzt der Moment gekommen, sich wieder zu versöhnen.
Endlich tauchte am Horizont die Silhouette des Schiffes auf, die langsam größer wurde und bald konnten die Wartenden Einzelheiten erkennen. Am Bug stand neben Padre Laurindo eine Frau, die aufmerksam die Leute am Ufer betrachtete.
Es dauerte noch einige Zeit, bis das Schiff endlich anlegte. Hans nahm Jaíra an die Hand und ging auf die Angekommenen zu, die jetzt am Ufer standen.
»Guten Tag, ich bin Hans Ferber, der Lehrer. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise«, stellte er sich vor. Er gab der Frau die Hand.
»Margot Westkamp«, stellte sie sich ebenfalls vor, »ja, es war interessant und ich konnte mir einen ersten Eindruck von meiner zukünftigen Heimat machen. Padre Laurindo hat mir alles haarklein erklärt.«
»Darin ist er gut. Hat er in Ihnen endlich einen Zuhörer gefunden?« Hans lachte und stieß seinem langjährigen Freund in die Rippen.
»Oi, Jaíra, du wirst jedes Mal schöner, wenn ich herkomme. Wie geht es dir?«, fragte Padre Laurindo.
Jaíra lachte erfreut über das Kompliment.
»Danke, mir geht es gut.«
Jaíra wandte sich an Margot Westkamp, sie gab ihr ebenfalls die Hand und sagte auf Deutsch: »Ich bin Jaíra. Es freut mich, dass Sie in unser Dorf gekommen sind. Hans hat so viel dafür getan, bis er die Zustimmung für das Hospital bekommen hat.«
Etwas verwirrt drückte Margot Westkamp Jaíras Hand.
»Bin ich jetzt am Rhein oder am Amazonas? Ich dachte, ich komme ins finsterste Amazonien und nun werde ich auf Deutsch begrüßt. Ich glaube ich träume.« Sie lachte und sah Jaíra freundlich in die Augen.
»Jaíra ist die beste Schülerin von Hans. Sie spricht perfekt deutsch«, klärte Padre Laurindo die Ärztin auf. Diese nickte anerkennend.
»Ich glaube, wir zeigen Ihnen jetzt erst einmal Ihr neues Domizil. Sie sind doch bestimmt neugierig.«
»Und ob«, antwortete Margot Westkamp.
Sie gingen zu dem fertiggestellten Gebäude. Vorsichtig trugen mehrere Männer das Gepäck und die mitgebrachten Geräte zum Hospital, wo sie die Koffer und Kisten erst einmal in dem großen Krankensaal abstellten. Hans zeigte Margot Westkamp das Hospital und ihre privaten Räume, die in einem Nebengebäude untergebracht waren.
Jaíra betrachtete verstohlen die Frau. Sie war braun gebrannt und in ihren Jeans und dem T-Shirt wirkte sie jünger, obwohl Jaíra wusste, dass sie die Fünfzig bereits überschritten hatte. Ihre offene Art gefiel ihr und sie glaubte, dass diese Frau hier am richtigen Platz sein würde; sie mochte sie schon jetzt.
»Wenn Sie möchten, helfe ich Ihnen gerne beim Auspacken«, bot sich Jaíra spontan an.
»Das Angebot nehme ich gerne an. Die Koffer sind schwer und ich bin nur eine schwache, alte Frau«, meinte sie lachend mit einem spöttischen Grinsen, die anderen lachten mit.
»Dann wollen wir Sie nicht länger stören. Ich habe mit Hans noch Einiges zu besprechen. Wenn Sie fertig sind, lassen Sie sich von Jaíra in die Schule führen, dort haben die Leute einen Empfang und ein Essen für Sie vorbereitet«, entschuldigte sich Padre Laurindo.
Nachdem die beiden Frauen allein waren, trugen sie die Koffer in Margots neues Zuhause, wo sie die Sachen verstauten. Erschöpft ließen sie sich danach auf das im Wohnzimmer stehende Sofa fallen.
»Möchten Sie etwas trinken? Soll ich Ihnen was holen?«, fragte Jaíra.
»Ein Glas Wasser wäre prima. Ich bin schon total dehydriert.« Margot Westkamp streckte die Zunge heraus.
Jaíra ging in die Küche und holte eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank. Sie öffnete die Flasche und goss das mitgebrachte Glas voll.
»Und du, bist du nicht durstig?«
»Doch, ich wusste nicht, ob ich auch ...«
»Sicher.« Margot schüttelte den Kopf. »Das ist doch selbstverständlich.« Freundlich nickte sie Jaíra zu.
»Jetzt gehe ich erst einmal die Dusche ausprobieren und dann können wir gehen.« Sie stand auf, schnappte sich ein Handtuch und verschwand im Bad.
In der Zwischenzeit sah sich Jaíra die von der Ärztin mitgebrachten Bücher an, die sich auf dem Schreibtisch stapelten. Sie hatte sich ein Buch über Schwangerschaft und Geburt genommen. Fasziniert betrachtete sie die Bilder der Zeugung und Entwicklung bis zur Geburt. Deutlich konnte sie auf den Fotos alle Einzelheiten erkennen, es gab sogar Bilder der verschmolzenen Körper, in denen Jaíra das erigierte Glied im Körper der Frau sehen konnte.
Sie war so vertieft, dass sie nicht merkte, wie Margot an sie herantrat und erschrak, als sie sie ansprach.
»Das ist sehr interessant. Du kannst es gerne mal haben.«
»Ich ... ich habe mir nur die Bilder angesehen«, stotterte Jaíra ertappt. »Hans hat auch so ein Buch, aber nicht mit solchen Bildern. Ich war dabei, als die Frau meines Bruders ihr Kind bekam. Es war so schön ...«, schwärmte sie. »In den nächsten Wochen bekommt meine Schwester ihr Baby. Da möchte ich auch wieder dabei sein.«
Margot spürte Jaíras Begeisterung.
»Du sprichst wirklich sehr gut Deutsch«, lobte sie Jaíra. »Hat dir das alles Herr Ferber beigebracht?«, fragte sie immer noch ungläubig.
»Ja, er ist ein guter Lehrer. Am Anfang ist es mir schwergefallen, die Worte auszusprechen, aber dann ging es«, antwortete sie bescheiden.
»Das ist unglaublich, das hätte ich hier nicht erwartet.« Sie schüttelte den Kopf.
»Wollen wir? Die Leute warten bestimmt alle gespannt auf Sie.« Jaíra stand auf.
»Lass das blöde ‚Sie’, sag einfach ‚Du’, ich bin Margot.«
Sie hielt der verblüfften Jaíra die Hand hin, die ihr spontan zwei Küsschen auf die Wange gab. Mit rotem Kopf ging Jaíra stolz mit Margot zum Schulgebäude.
Jaíra hatte recht, jeder hatte sich auf den Weg gemacht, um die neue Ärztin zu begrüßen. In dem Schulsaal drängten sich die Menschen und noch vor dem Saal standen die Leute in Gruppen und unterhielten sich.
In einer dieser Gruppen erkannte sie Adriano, der mit den Leuten zusammenstand, die das Hospital gebaut hatten. Sie winkte ihm zu. Hans und Padre Laurindo kamen ihnen entgegen. Sie führten sie an einen Tisch vor der Tafel. Hans stellte sich vor den Tisch und begann mit einer kleinen Rede.
»Nachdem wir das Hospital fertiggestellt haben, bin ich sehr froh darüber, euch Margot Westkamp vorzustellen, die als Ärztin in unser Dorf gekommen ist, um hier zu arbeiten.«
Er beschrieb noch einmal die Schwierigkeiten und die verschlungenen Wege der Bürokratie und dankte den Männern vom Bau für die saubere Arbeit, die sie geleistet hatten. Nach dem Ende seiner Rede bat er Margot Westkamp, auch ein paar Worte an die Zuhörer zu richten, was diese gerne tat. Es kam Jaíra so vor, als wäre es an ihrem ersten Schultag. Gebannt horchte sie den Erzählungen Margots.
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