„Der Kerl spinnt“, schimpfte er. „Was der erwartet, kann kein Schüler leisten.“
Was Stefan antwortete, konnte ich nicht hören. Er sprach relativ leise. Wahrscheinlich fragte er, wie der Klassendurchschnitt war, denn Dominik beschwerte sich, dass es im gesamten Kurs nur eine Eins minus gab. Er wollte, dass sein Vater mit dem Lehrer redete. „Du musst ihm sagen, dass er Unmögliches verlangt.“
„Das werde ich auf gar keinen Fall tun!“
Ich hörte Blättern. Stefan guckte sich wohl die Klausur an. „Da hast du aber einige Fehler gemacht“, stellte er fest.
„Ich bin eben nicht besonders gut in Grammatik. Aber mit dem Inhalt gleiche ich das immer aus.“
„Darauf würde ich mich nicht verlassen. Stattdessen könntest du ein paar Grammatikregeln wiederholen. Ich sehe zum Beispiel, dass du vor allem Zeitfehler gemacht hast. Warum fängst du nicht damit an?“
Mir fiel ein, dass Annika mir vor einiger Zeit ein Buch gegeben hatte mit Regeln und Übungen. Das hatte mir tatsächlich geholfen. Ich platzte ins Wohnzimmer. „Ich habe ein gutes Buch, mit dem du Grammatik üben kannst.“
Die beiden starrten mich an. „Du hast an der Tür gelauscht!“, rief Dominik entrüstet.
Erst jetzt wurde mir klar, dass ich mich verraten hatte. Himmel, war mir das peinlich! Ich stotterte was von „zufällig im Vorbeigehen gehört“.
„Dann musst du aber seeehr langsam vorbeigegangen sein ...“
Stefan mischte sich ein. „Guck dir Merles Buch doch mal an.“
Ein geringschätziger Blick traf mich. „Was die gut findet, kann nur Mist sein.“
„Rede nicht solch einen Unsinn“, war das Letzte, was ich Stefan sagen hörte, bevor ich die Tür hinter mir zuknallte. Ihm konnte man absolut nichts vorwerfen, er war okay. Aber sein Sohn ... Einfach grässlich! Grauenvoll!
Ich beschwerte mich bei Mama über Dominik.
„Das wird schon“, meinte sie zuversichtlich. „Ihr rauft euch bestimmt noch zusammen.“
„Du irrst dich. Das wird nie was“, sagte ich im Brustton der Überzeugung.
In den Herbstferien fuhren Mama, Stefan und ich an die holländische Nordseeküste. Wir nahmen unsere Räder mit. Die Eltern – ich nenne sie mal so – reisten unheimlich gern und sie liebten das Meer und Radwanderungen. Dort konnten sie beides miteinander verknüpfen, und ich hatte nichts dagegen.
Mein blöder Stiefbruder, wie ich ihn insgeheim nannte, kam natürlich nicht mit. Das hätte mich auch gewundert. Er und sein Freund Thomas fuhren mit ihrer Judogruppe in ein Trainingslager. Mehr wusste ich nicht, noch nicht einmal, wo das war, denn er tat mir nicht die Ehre an, mich genauer zu informieren, und ich tat ihm nicht die Ehre an, mich genauer zu erkundigen. Das Einzige, was er diesbezüglich zu mir sagte, als ich eines Nachmittags Hip-Hop durchs Haus schallen ließ, war: „Gott sei Dank bin ich dich bald für ein paar Tage los.“
„Dito“, gab ich zurück.
Als ich Annika davon berichtete, erlebte ich eine Überraschung. Sie reagierte völlig anders, als ich es erwartet hatte. Ich dachte, sie würde etwas äußern wie: „Sei froh, dass du den nicht die ganzen Ferien an der Backe hast.“ Stattdessen sagte sie: „Schade eigentlich, dass er nicht mit euch fährt.“
„Hä?“ Ich schaute sie verständnislos an.
„Dann hättet ihr euch richtig kennenlernen können“, setzte sie erklärend hinzu.
„Nein, danke“, rief ich. „Was ich bisher von ihm gesehen habe, reicht mir vollkommen.“
„Möglicherweise ist er netter, als du glaubst.“
„Im Gegenteil“, erwiderte ich. „Er ist noch viel schlimmer, als du es dir vorstellen kannst.“
***
Die Reise nach Holland ohne Dominik war richtig schön. Ich mochte Stefan von Tag zu Tag mehr. Fast vergaß ich, dass er früher mein Lehrer gewesen war. Privat war er sowieso total anders als in der Schule. Dort war er Herr Grau, zu Hause war er Stefan und richtig lieb und nett.
Ich weiß nicht, was Dominik über meine Mama dachte. Sie war ebenfalls furchtbar lieb und nett zu ihm, manchmal sogar netter als zu mir, fand ich. Er war nicht direkt nett zu ihr, aber auch nicht unnett. Ich glaube, er mochte sie und wollte es bloß nicht zeigen.
Von ihm hörten wir die ganze Zeit über nichts. Kein Anruf, keine SMS, keine WhatsApp.
Irgendwann schickte Stefan ihm eine Nachricht. Er schrieb, dass es uns in Holland gut gefiel, und wollte wissen, wie es im Trainingslager wäre. Dominiks Antwort bestand aus einem Wort. „Okay.“ Bestimmt fand er das Trainingslager hauptsächlich deshalb okay, weil ich nicht dort war!
***
Als die Schule – viel zu schnell! – wieder anfing, ging mit Annika eine seltsame Veränderung vor. Sie wurde auf einmal extrem anhänglich. Wir hatten uns immer schon oft getroffen – bei ihr, bei mir oder in der Stadt –, und wir telefonierten und simsten mehr oder weniger unablässig, aber nun bestand sie plötzlich darauf, jeden Nachmittag bei uns zu verbringen, obwohl sie ziemlich weit mit dem Bus oder Rad fahren musste.
Im Prinzip hatte ich nichts dagegen, aber irgendwann war ich es leid, ständig zu Hause rumzuhängen. Doch sobald ich Annika irgendwelche Vorschläge machte, wehrte sie ab. In die Stadt wollte sie nicht, weil sie kein Geld zum Shoppen hatte. Ins Hallenbad wollte sie nicht, weil es ihr zu kalt war. Ins Kino wollte sie nicht, weil sie gehört hatte, der Film wäre doof. Und sich mit den anderen zu treffen, dazu hatte sie auch keine rechte Lust.
Bei uns benahm sie sich äußerst merkwürdig. Wenn wir in meinem Zimmer hockten, hatte ich oft das Gefühl, dass sie mit ihren Gedanken ganz woanders war.
Oft schlug sie vor, auf die Terrasse zu gehen.
„Das begreife ich nicht“, erwiderte ich. „Du willst nicht ins Schwimmbad, weil es dir zu kalt ist, aber es macht dir nichts aus, bei 12 Grad draußen zu sitzen?“
„Es ist schönes Wetter. In der Sonne ist es warm genug. An der Decke des Hallenbads hängt keine Sonne.“
„Nee, da ist bloß geheizt“, gab ich lakonisch zurück.
Dauernd wollte sie im Wohnzimmer fernsehen.
„Was für ein Quatsch!“, sagte ich. „Fernsehen kannst du auch allein. Dafür brauchen wir uns nicht zu treffen.“
„Gleich kommt aber eine meiner Lieblingsserien. Die ist super! Und hinterher können wir uns darüber unterhalten.“
Wir redeten hinterher nie über die Serien. Ich hatte sowieso das Gefühl, dass Annika gar nicht bei der Sache war. Als ob sie auf etwas – oder jemanden – warten würde. Sobald auf dem Flur Geräusche zu hören waren, stand sie auf und ging raus – aufs Klo oder in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Es war unglaublich, wie viel Wasser sie in dieser Zeit trank. Kein Wunder, dass sie dauernd zum Klo rennen musste!
Als sie einmal bei uns übernachtete, fiel mir noch mehr auf. Beim Abendessen benahm sie sich völlig anders als sonst. Sie kicherte ohne Ende und versuchte, witzig zu sein. Da kam mir ein Verdacht ... Der bestätigte sich, als sie plötzlich behauptete, sie würde Judo toll finden, und Dominik allerhand Fragen dazu stellte. Ich wusste hundertprozentig, dass sie sich nicht die Bohne für Judo interessierte. Zumindest hatte sie mir gegenüber noch nie etwas in der Art geäußert. Zu meiner Überraschung ging Dominik ausführlich auf ihre Fragen ein und er schien es sogar gern zu tun. Er gab ihr Auskunft über Kampftechniken, Prüfungen und Gürtel. Er hatte übrigens den braunen, was Annika mit tiefer Bewunderung zur Kenntnis nahm. Mit großen Augen staunte sie ihn an. Sie hatte zu viel Wimperntusche aufgetragen, die zum Teil verlaufen war, sodass es aussah, als hätte sie schwarze Ringe unter den Augen.
Als wir später allein in meinem Zimmer saßen, sagte ich es ihr auf den Kopf zu: „Du bist in Dominik verknallt.“
Erst stritt sie es ab.
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