Dabei war ein Teil des Gebäudes in eine Eisenbahnhalle verwandelt, in der vier Waggons der Internationalen Schlafwagengesellschaft genau in derselben Einrichtung aufgestellt waren, wie sie schon damals zwischen Moskau und Irkutsk wöchentlich einmal verkehrten. Die Ausführung des Zuges, der vollständig gebrauchsfertig zusammengestellt war, sollte das Publikum an die Vorstellung gewöhnen, daß es keine unmögliche Zumutung bilde, achteinhalb Tage von „Mütterchen“ Moskau bis zur Hauptstadt von Mittelsibirien ohne Unterbrechung auf der Eisenbahn zuzubringen. Gegenwärtig genügen dazu sieben Tage und acht Nächte.“
Der Weg nach Russland führte Zabel im Sommer 1903 dann auch über Königsberg, dem heutigen Kaliningrad. „In meiner Vaterstadt Königsberg i. Pr. verlebte ich nach der Abfahrt von der Station Zoologischer Garten in Berlin zunächst einen Sonntag im Kreise meiner Geschwister und lieben Verwandten. Alles, was Russland und die Entwicklung des Zarenreichs betrifft, findet in der alten ostpreußischen Krönungsstadt naturgemäß ein lebhaftes Echo, denn dort ist ein starkes Bollwerk des Deutschtums gegen den Osten, eine feste Burg vaterländischer Gesinnung und Kultur geschaffen. Gerade die Nähe der russischen Grenze bewirkt es, daß im Schatten des ehrwürdigen Schlosses das Nationalitätsgefühl lebhaft pulsiert und eifrig bedacht ist, das von den Vätern Ererbte rein zu erhalten. Damit hängt es aber auch zusammen, daß man in Königsberg bemüht ist, das östliche Nachbarreich nicht, wie es wohl sonst geschieht, mit billigen Redensarten abzuurteilen, sondern es aus der Eigenart des Landes und seiner Bevölkerung, seiner Geschichte und Charakteranlage wirklich zu verstehen.“
Zabel, der wirklich ein Russland-Versteher war (heute würde man ihn mit dieser Bezeichnung in eine Schublade mit ehemaligen brandenburgischen Ministerpräsidenten oder Russland-Korrespondentinnen mit Kurzhaarfrisuren stecken, die mit bewundernswertem Einsatz in unzähligen Talkshows und Publikationen dafür werben, mit Russland, also Putin, im Gespräch zu bleiben), musste glücklicherweise nicht mehr miterleben, dass im Sommer 1944 seine Heimatstadt, dieses deutsche Bollwerk, von der Royal Airforce in Schutt und Asche gebombt wurde, auch das Schloss, an dessen Stelle in Kaliningrad jetzt ein neues architektonisches „Meisterwerk“ zu besichtigen ist: die Bauruine des monströsen Haus-der Räte , dessen Fertigstellung aufgrund statischer Fehlkalkulationen (vielleicht gab es ja sogar gar keine statischen Berechnungen, wer weiß das schon) schon in den 60er Jahren auf den St.-Nimmerleinstag verschoben wurde und dessen Abriss bisher an den zu hohen Kosten scheiterte.
Immerhin wurde der alte Dom auf der nahegelegenen Pregelinsel, dem ehemaligen Stadtteil Kneiphof, wieder aufgebaut, so dass auch das Kant-Mausoleum seinen würdigen Platz hat. Im Dom kann man täglich Orgelkonzerten lauschen, ein unumgänglicher Programmpunkt jeder Kaliningrad-Reise.
Reiseführer Sergej aus Kaliningrad, Russland
Wer einen besonders kundigen Reiseführer für das ganze Gebiet (Oblast) Kaliningrad sucht, der ist mit Sergej Belantschuk bestens bedient. Mit Sergej verbindet mich nicht nur unser fast gleiches Alter und die Nähe der Geburtsorte (Beelitz bei Potsdam bzw. Berlin-Steglitz), sondern auch die Tatsache, dass wir beide unseren Arztberuf irgendwann gegen eine neue Herausforderung eintauschten. Leider hat Sergej am einzigen für mich verbleibenden Abend nur wenig Zeit („Ich bin etwas müde, war gerade 10 Stunden lang mit einer Gruppe unterwegs auf Exkursion“), redet sich dann aber doch langsam warm und ist kaum zu stoppen.
„Diese Russophobie bei Euch ist doch lächerlich. Eure Medien machen Putin für alles verantwortlich, was in der Welt passiert. Wenn irgendwo ein Blitz einschlägt oder jemand stolpert und sich etwas bricht, ist immer Putin Schuld.“ Sergej ist natürlich nicht einseitig informiert, er schaut auch häufig deutsches oder polnisches Fernsehen. „Die Informationen schwingen wie ein Pendel hin und her, die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte.“
Die politische Eiszeit berührt auch Sergejs Tätigkeit als Reiseführer. „In den 90er Jahren gab es noch ein Tragflächenboot von Elbing nach Kaliningrad, da kamen viele Polen. Jetzt sind es viel weniger“. Meine Frage, ob es denen vielleicht zu unsicher in Kaliningrad sei, lässt Sergej offensichtlich an meinem Verstand zweifeln. „Unsicher..., in Polen ist es doch viel unsicherer als bei uns. Lass dort mal so ein teures Auto wie das dort vorne einfach so auf der Straße stehen. Das steht da nicht lange. Hier bei uns gibt es so gut wie keine Diebstähle, auch keine Überfälle. Nein, Kaliningrad ist viel sicherer als Polen. Nur einmal, da hat sich ein Amerikaner eine blutige Nase geholt, der hatte mit Fremden viel Wodka getrunken. Nun, dann hat er Schläge bekommen von irgendwelchen Typen, vielleicht, weil er Amerikaner war.“
Mit Polen gibt es aber keine Probleme, mit Litauern sowieso nicht, die ja alle Russisch sprechen und mit dem Auto kommen und somit keine Kundschaft für Sergej sind. Sergej macht auch Touren nach Litauen und Polen. Dabei fällt auf, dass es in der letzten Zeit gerade an der Grenze zu Polen viele Schikanen gibt.
„Neulich an der Grenze nach Goldap, als nur unser Auto dort war, hat es mehr als anderthalb Stunden gedauert. Früher konnte man Scherze machen, ich spreche ja akzentfrei polnisch. Auf die Frage, warum ich so gut Polnisch spräche, habe ich geantwortet, dass ich natürlich ein russischer Spion bin, und alle haben gelacht. Diese Zeiten sind vorbei. Na, statt der Polen kommen jetzt mehr Russen, viele von weit her, Magadan, Wladiwostok, und und und.“
Sergej glaubt nicht, dass sich die Lage zwischen Russland und dem Westen in der nächsten Zeit entspannen wird. Auch nicht angesichts der nahenden Fußball-Weltmeisterschaft. „Deswegen erst recht nicht, was war denn 1980? Da haben die Amerikaner – und mit ihnen fast der ganze Westen - die Olympiade in Moskau boykottiert. Das kann bei der WM auch so kommen.“ Da frage ich mich doch, ob die US-Amerikaner die WM etwa aus politischen Gründen boykottieren und dabei unter anderem von den Italienern und Holländern unterstützt werden?
Wenn es nach ihm ginge sollte Kaliningrad die WM allerdings sowieso lieber absagen. „Eine Schnapsidee, das neue Stadion mitten auf eine Insel im Pregel zu bauen. Das Ding wird absaufen und wir haben ein neues Haus der Räte , Nr. 2. Brauchen tut das Stadion auch keiner, es wird auch nach der WM noch sehr viel Geld kosten. Da werden Milliarden versenkt, während in Afrika Tausende von Kindern verhungern.“ Nein, auf den Stadionneubau ist Sergej wirklich nicht gut zu sprechen. „Wenigstens kommt jetzt der neue Flughafen, das wurde auch höchste Zeit.“
Wir verabreden uns schließlich zu einem guten Abendessen mit Wodka, wenn ich das nächste Mal nach Kaliningrad komme, und dann rauscht Sergej mit seinem Kleinbus davon (nicht, ohne mir vorher noch zu versprechen, dass er mir die Adresse seines Bruders in Wladiwostok mailen wird, „für alle Fälle, sicher ist sicher“).
Auf der Kurischen Nehrung, Russland
Nach einer eher kurzen Nacht besteige ich am nächsten Morgen kurz vor 7.00 Uhr den Bus nach Klaipeda, Litauen. Eine wunderschöne Strecke, auch wenn auf dem Weg nach Selenogradsk, dem alten Ostseebad Cranz, noch nichts von den wilden Lupinen zu sehen ist, die wohl in wenigen Wochen wieder überall am Wegesrand blühen werden.
Am Ortsrand von Selenogradsk wird man von mehreren Blöcken moderner Neubauten empfangen, eine beliebte Wohngegend vieler Menschen, die täglich nach Kaliningrad zur Arbeit pendeln. Mal mehr, mal weniger Stau! Ansonsten ist Selenogradsk aber ein schönes kleines Städtchen, dessen Altstadt mit einigen guten Hotels und Ferienwohnungen sowie dem angrenzenden Stadtpark und dem ostwärts - also Richtung Kurischer Nehrung - liegenden schönen Sandstrand durchaus zu einem Kurzurlaub einlädt.
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