„Es ist trotzdem gut, dass du ihn gestern gleich rausgeschmissen hast, diesen Halunken“, wetterte Marens Vater weiter. „Sonst hätte ich ihn heute rausbefördert. Oder …“
„Kurt!“, sagte jetzt Frau Förster energischer zu ihrem Mann. Was Herrn Förster augenblicklich verstummen ließ. In den letzten dreißig Jahren hatte er gelernt, wann er am besten den Mund halten musste, um es sich nicht mit seiner Frau zu verderben.
„Maren, wir sind ja auch quasi auf der Durchreise. Sozusagen, auf dem Weg in unseren Urlaub“, wandte sich Frau Förster wieder an ihre Tochter. „Wir haben nur einen kleinen Umweg gemacht, um zu sehen, was mit dir los ist. Darum sind wir heute früh nach deinem Anruf gleich aufgestanden und sind zu dir gefahren.“
„Ach so“, murmelte Maren. „Hatte ich ganz vergessen …“ Solche Umstände hatte sie ihren Eltern nicht machen wollen. Sie hatte nur etwas Trost in ihrem Elend gebraucht. Betrübt fuhr sie fort: „Macht euch um mich keine Sorgen, ich bin schon ein großes Mädchen. Ihr habt euch euren Urlaub verdient. Fahrt also ruhig.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob wir dich jetzt allein lassen sollten“, entgegnete ihre Mutter.
„Das meine ich auch“, warf ihr Vater ein. „Du hast doch jetzt auch Urlaub, warum kommst du nicht einfach mit uns mit? Das wäre doch schön, so wie früher!“
„Papa, ich bin doch keine zwölf mehr“, maulte Maren, dennoch war sie neugierig geworden. „Wo fahrt ihr denn hin?“
„Wir fahren nach Südtirol. Und ich finde, dein Vater hat recht. Das ist die beste Lösung für uns alle, oder willst du die nächsten drei Wochen hier allein in deiner Wohnung bleiben, wo dich alles an Thomas und an gestern erinnert? Nein, du brauchst jetzt einen Tapetenwechsel, damit du etwas Abstand gewinnst.“
„Südtirol? Ach, du meine Güte! Mit Wandern und so? Also, ich weiß nicht.“ Maren fand diesen Vorschlag nicht besonders einladend. Aber ihre Mutter hatte recht. Alles hier in der Wohnung würde sie an die schöne Zeit mit Thomas und den furchtbaren gestrigen Nachmittag erinnern. Und wo sollte sie sonst hin? Allein in die Provence fahren? Nein, auf gar keinen Fall! Zum Glück hatte sie auf eine Reiserücktrittsversicherung bestanden.
Ach, was soll’s, dachte sich Maren, der Urlaub ist sowieso verdorben, dann kann ich auch mit meinen Eltern nach Südtirol fahren .
„Also gut“, sagte Maren zu ihren Eltern. „Ich muss aber noch packen und im Reisebüro anrufen. Ach, und da wäre noch etwas. Ich habe Angst, dass Thomas vorbeikommt und mir die Wohnung ausräumt. Immerhin hat er seine Schlüssel.“
„Das lass meine Sorgen sein“, erwiderte Marens Vater. „Kümmert ihr euch um die Koffer und um das Reisebüro.“
Nach dreieinhalb Stunden saßen sie alle endlich im fast überladenen, himmelblauen Mercedes Benz, Baujahr 1985 – dem ganzen Stolz von Vater Förster.
Trostlos kauerte Maren auf dem ledernen Rücksitz und schaute aus dem Fenster.
Wie tief bin ich gesunken? , dachte sich Maren. Trotzdem war sie dankbar, jetzt nicht allein in ihrer großen, schicken Wohnung zu sein.
Das Packen ihres Koffers war ihr nicht leicht von der Hand gegangen. Sie hatte möglichst viel Freizeitkleidung eingepackt. Dort, wo sie hinfuhr, benötigte Maren weniger schicke Kleidung. Statt ihrer High Heels hatte sie Turnschuhe, Flip-Flops und immerhin ein Paar schickere Sommersandalen mitgenommen. Nur ihr neues Kleid, das sie gestern in der Boutique gekauft hatte, um für den besonderen Moment bezaubernd auszusehen, hatte Maren samt Plastiktragetasche stiefmütterlich in dem Koffer verstaut.
Auch mit der Stornierung der Reise hatte alles reibungslos geklappt. Marens Nase war vom vielen Weinen so verstopft gewesen, dass die Angestellte vom Reisebüro die vorgetäuschte Sommergrippe ihr problemlos abgekauft hatte.
Nach einem kleinen Frühstück, das alle gut hatten gebrauchen können, hatte Marens Vater ihren Koffer zum Wagen in die Tiefgarage runtergebracht. Als sie mit dem Fahrstuhl nach unten gefahren war, hatte Maren gedacht: Es geht mit mir buchstäblich bergab. Was für eine Ironie des Lebens . Über diese Erkenntnis war eine dicke Träne aus dem großen Ozean ihrer blauen Augen gekullert.
Nun saß sie im Auto ihrer Eltern, mit verquollenen Augen und einer vom vielen Schniefen verstopften Nase, während sie den Messeschnellweg in Hannover in Richtung Autobahn fuhren.
Vorn saßen ihrer Eltern, und im Radio sang Helene Fischer auf NDR 3 inbrünstig ihr ‚Atemlos‘, das ihre Mutter summend mitbegleitete. Hoffentlich war das kein Fehler , dachte Maren, als sie auf die A37 Richtung A7 fuhren.
Nach einer ungefähr dreistündigen Fahrt, die Maren wie eine Ewigkeit vorkam, lenkte Vater Förster seinen himmelblauen Traum auf einen Rastplatz an der A7. „So, wir machen jetzt eine Pause.“
„Schön, es ist ja auch gleich Mittagszeit. Die Pause wird uns allen guttun“, erwiderte Helga Förster.
„Genau, ich werde erst tanken, dann suchen wir uns ein schönes Plätzchen.“
„Papa, dort drüben ist ein guter Parkplatz, da haben wir es nicht so weit zum Restaurant!“, sagte Maren zu ihrem Vater, sichtlich erleichtert, dem Brutkasten für ein paar Minuten zu entrinnen. Die Sonne war am Zenit des Tages angekommen, und die Sonnenstrahlen knallten gnadenlos auf das Dach des Autos. Maren war froh, für eine halbe Stunde der Auto-Sauna zu entkommen und sich in einem klimatisierten Raum abzukühlen.
„Nicht doch, Maren“, mischte sich ihre Mutter ein, „da laufen doch so viele Leute hin und her, aber da hinten sind schöne Sitzplätze im Schatten. Dort können wir in Ruhe unser Picknick machen.“
„Picknick?“, fragte Maren entgeistert ihre Mutter. „Du hast Butterbrote für unterwegs eingepackt?“
„Nein, aber wir haben leckeren Kartoffelsalat, Frikadellen, die du so gern magst, gebratene Schnitzel, Gürkchen und ein bisschen Obst für hinterher. Und natürlich eine Thermoskanne mit Kaffee.“
„Ihr seid sicher, dass ihr nur bis Norditalien wollt und nicht bis runter nach Kap Hoorn? Man kann sich auch eine Kleinigkeit in der Gaststätte kaufen und braucht keinen unnützen Reiseproviant für unterwegs mitzunehmen“, belehrte Maren ihre Mutter.
„Schon, aber man weiß ja nicht, wer das Essen zubereitet hat, ob es schmeckt und was drin ist. Außerdem ist das Essen in diesen Autobahnraststätten viel zu teuer. Das habe ich erst letztens wieder in einem Bericht im Fernsehen gesehen.“ Sie wandte sich an ihren Mann. „Kurt, während du tankst, werden Maren und ich schon mal das Picknick vorbereiten.“ Damit war alles zu diesem Thema gesagt, was von Kurt nur mit einem „Jou, so mok we dat“ kommentiert wurde.
Also stiegen Maren und ihre Mutter an der Tankstelle aus und gingen mit Körben und Kühltaschen beladen in Richtung der hinteren Bänke. Dort angekommen, holte Frau Förster zuerst ihren mitgebrachten Küchenlappen aus einem Plastikbeutel und wischte Tisch und Bänke ab.
„Mama, es reicht doch völlig, wenn wir Papiertaschentücher auf den Tisch vor uns legen.“
„Nee, das mag ich gar nicht.“ Sie breitete die mitgebrachte Wachstischdecke auf dem abgewischten Tisch aus. „Nachher ist die Tischdecke von unten so verkrümelt.“
„Ach, Mama, du bist unbelehrbar. Manchmal glaube ich, ihr seid irgendwo 1970 stehengeblieben.“
„So ist das doch viel gemütlicher, findest du nicht?“, lächelte Frau Förster ihre Tochter an.
„Schon, aber dieser ganze Aufwand …“
„Das macht doch nichts! Hauptsache, wir sind zusammen und haben eine schöne Zeit miteinander. Außerdem weiß ich, dass dein Vater das so gern hat. Früher haben wir beide oft Picknicks gemacht, als wir uns kennengelernt haben …“
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