Erschöpft lässt sich Lenny neben seine Kumpels auf die Bank fallen. Er greift in seine Sporttasche und sucht seine Wasserflasche. Bei dem Herumgewühle spüren seine Finger etwas Kaltes, Hartes, Rundes. Verdutzt zieht er eine Glasmurmelaus der Tasche. „Wie kommt die denn hier her?“ fragt er sich. Bei genauerem Hinsehen erkennt er eine regenbogenartige Spirale in der sonst durchsichtigen Glasmurmel. „Wahrscheinlich hat Mati sie mir als Talisman vor dem Spiel in die Tasche gesteckt.“ Sein Vater sammelt Glasmurmeln. Die hatten es ihm irgendwie angetan. Auf ihrem Esstisch zu Hause stand eine große Schale mit Glasmurmeln in allen Größen und Farben, rote, gelbe, grüne, blaue, violette. Sein Vater wählte jeden Morgen drei kleine Glasmurmeln aus und steckte sie sich als Glücksbringer für den Tag in die Hosentasche seines Anzugs. Lenny lässt die Glasmurmel in seine Sporthose verschwinden. „Ein bisschen Glück kann nie schaden.“ Mati ist seine zweieinhalb Jahre jüngere Schwester, die bei seinen Eltern auf der Zuschauerbank sitzt.
Mit einem zweiten Griff in die Sporttasche greift er sich seine Wasserflasche und nimmt einen großen Schluck. Dabei fällt sein Blick auf die großen Fenster der Halle. Draußen schien gerade noch die Sonne. Nun war es dunkel und bewölkt. Ein Sturm ist im Anzug. „Na was soll’s. Gut dass wir in der Halle sind.“ Er schaut hinüber zu seinen Eltern auf die Zuschauertribüne. Seine Mutter zeigt ihm den erhobenen Daumen. Sein Vater schreibt wie immer das Ergebnis in das kleine schwarze Notizbuch, das er bei jedem Spiel dabei hat. Hier trägt er akribisch alle Aktionen von Lenny ein und gemeinsam werten sie es zu Hause aus. Wie viele Körbe, Assists, Steals, Rebounds hat Lenny umgesetzt. Wie war die Trefferquote. „Echt Klasse, dass mein Dad so bei der Sache ist“, denkt sich Lenny. „Er hat sich von mir vom Basketballfieber anstecken lassen.“ Letztes Wochenende waren sie sogar zu einem – sie nennen es „Papa-Wochenende“ nach Bostongefahren, wo sein Vater die Woche über arbeitet. Er hatte dort eine kleine „Studentenbude“ gemietet. Spartanisch eingerichtet, ohne Fernseher, mit Bett, Tisch, einer Musikanlage, seiner Gitarre und gemeinsam mit seiner Schwester Mati gemalten Bildern an der Wand, war das alles, was sein Vater die Woche über brauchte. Am Samstag waren sie nachmittags zu dem Spiel der Boston Celtics gegen die Dallas Mavericks gegangen. Dirk Nowitzki der große, blonde Deutsche war schon eine Wucht. Sein Kranich Wurf, bei dem er sich beim Wurf nach hinten fallen lies, war einsame Klasse. Aber auch Raijo Rondo, der junge Aufbauspieler von Boston war Lennys Vorbild. In der Zeitschrift „Basket“ hatte Lenny gelesen, dass Präsident Obama letztens die Boston Celtics persönlich besuchte. Obama hatte über die Wurfquote von Rondo gewitzelt. Das ging durch die ganze Presse und nun hatte der sensible Spieler einen Blackout. Ja, die Erwartungen an die Spieler waren immer groß. Das kannte Lenny bereits. Abends waren Lenny und sein Vater in die Innenstadt von Boston gezogen. In einer Studentenkneipe gab es Tortellini und eine große Coke für Lenny. Lenny fand es toll, dass sein Dad ihn schon wie einen Großen behandelte. Trotz seiner fast 50 Jahre war sein Vater echt cool. Er trug am liebsten Jeans und All-Star Chucks und sein Lieblings - Led Zeppelin T-Shirt. Am Handgelenk hatte er ein paar bunte Bänder. Seine Haartolle war in der Woche passend zum notwendigen Anzug nach hinten mit Haar-Gel angelegt. Jetzt trug er die Haare offen und mit seiner neuen Brille sah er beinahe Johnny Depp etwas ähnlich. Abends hatten sie noch bei Dad in seiner Bude übernachtet und vor dem Schlafen über Basketball gefachsimpelt. Am nächsten Morgen gab es Frühstück in einem Café um die Ecke und dann ging es über den Highway zurück nach New York.
Die Tröten und das Gebrüll der Zuschauer reißen Lenny nun aus seinen Gedanken. Miami hat gleichgezogen. Lenny möchte sofort aufs Spielfeld rennen, um seinem Team zu helfen. Sein Verstand hält ihn jedoch zurück. „Den Ärger vom Schiedsrichter kann ich wirklich nicht gebrauchen.“ Ziellos gleitet sein Blick über die Zuschauer. Dabei bleibt sein Blick an einem merkwürdigen Typen hängen. Er hat schulterlange, schwarze Haare, die er in einem Zopf nach hinten gekämmt, zusammen hält. Ein schwarzer Parka verdeckt umhangartig seine restliche Kleidung. Der Mann schaut in seine Richtung. Besser gesagt, er schaut ihn direkt an und das scheinbar schon gefühlte Minuten. Das erste mulmige Gefühl lässt sofort nach. Der Blick des Mannes hat nichts Beängstigendes. Ganz im Gegenteil, er strahlt innere Ruhe und Kraft aus. Lenny schaut in dessen Augen und ihn selbst durchströmt eine kraftvolle Energie. „Lenny … Lenny!“, beim zweiten Mal energischer, ruft sein Trainer. „Los Du wechselt mit Luc.“ Lenny springt auf. Luc läuft auf ihn zu und sie klatschen sich am Spielfeldrand ab. Lenny schließt sich seinem Team an, das gerade wieder den Ball zum Angriff nach vorn trägt. Lenny nimmt seine Position an der Dreierlinie ein. Ein kurzer Blick nach draußen sagt ihm, dass das Wetter sich beruhigt hat. Die Sonne beginnt bereits wieder, an einigen Stellen hinter den Wolken mit ihren Lichtstrahlen den Regen zu verdrängen. Der Anblick verschlägt ihm jedoch die Sprache. Ein riesiger doppelter Regenbogen nimmt fasst die gesamte Fensterfront ein. So etwas Einzigartiges hat er noch nie gesehen. „Lenny!“ ruft jemand hinter ihm. Er sieht aus den Augenwinkeln seitlich einen Schatten, den Ball, auf sich zurasen. Sein Kopf scheint von dem Schlag fast zu explodieren. Vor seinem inneren Auge vermischen sich tanzende Sterne mit einem farbigen Regenbogen. Ein regenbogenfarbener Vogel steigt in den Himmel empor. Dann wird alles schwarz.
Der Mann mit dem Zopf murmelt leise vor sich hin. „Tut mir Leid Großer. Wir brauchen Dich.“
In den Straßen von New York
Lenny schreckt auf. Er liegt am Boden. Es ist dunkel um ihn herum. „Was ist los? Wo sind die Anderen?! Ist das Spiel schon vorbei? Hat er etwa das Ende verpasst?“ Er erinnert sich an die letzten Bilder, die er abgespeichert hat: der regenbogenfarbene Vogel, das Gesicht des Mannes mit dem Zopf und der Schlag, der seinen Kopf innerlich explodieren ließ. Wo sind seine Eltern, sein Trainer. „Die können mich doch hier nicht einfach so liegenlassen.“ Es ist bereits Nacht. Er liegt auf den breiten Stufen einer riesigen Treppe. Über ihm ragen stolze Säulen in den Himmel, deren Enden von zierlichen Blättern und Stängeln gekrönt sind. Korinthische Säulen sagt ihm sein Geist, der sich noch immer im Dämmerzustand befindet. Sein Blick wandert nach rechts, wo sich die Reihe der Säulen fortsetzt. „Bin ich im Himmel, im Olymp bei den Göttern“, geht es ihm durch den Kopf. Ihm fällt der Schriftzug oberhalb der Säulenkolonnade auf. Er versucht, diesen zu entziffern: “Weder Schnee, noch Regen, noch Hitze, noch die Dunkelheit der Nacht können die Kuriere von der Überbringung ihrer Nachrichten abhalten“ Das kommt Lenny bekannt vor. Sein Gehirn beginnt zu rattern, bis es eine gespeicherte Information findet, bei der es einrastet. „Ich bin gerettet. Ich bin in New York. Lenny kennt das Gebäude, an dessen Mauern er rücklings liegt. Jede Woche hatte er es mehrmals unbewusst passiert, wenn es zum Basketballtraining ging. Es ist das Central Post Officean der 34 Straße/ Ecke 8th Avenue gegenüber der Pennsylvania Station in New York. Dahinter liegt seine Basketball-Heimat, der Madison Square Garden.
Unwillkürlich muss er an seinen Vater denken. Dieser hatte ihn einmal auf die prächtige Säulenkolonnade aufmerksam gemacht und gemeint, es wären korinthische Säulen. Sein Vater liebt Architektur und gemeinsam waren sie in New York, ihrem geliebten „Big Apple“ immer wieder, all die letzten Jahre auf Streifzüge gegangen. Sein Vater konnte ihm zu vielen der Gebäude, Wolkenkratzer, Museen, Kirchen, Synagogen Geschichten erzählen. Unter welchen Umständen, in welcher Zeit war das Gebäude errichtet worden. Wer hatte hier gelebt und geliebt. Welches Glück, welche Krisen hatten die Häuser und ihre Bewohner erlebt. New York war eine pulsierende, sich ständig anpassende, wachsende Stadt, eine Stadt mit Herz, mit Geist, mit ihrer grünen Lunge, dem Central Park, mit den eigenständigen Stadtteilen Brooklyn, der Bronx, Queens und Staten Island, die sich wie Gliedmaßen um Manhattan wanden. New York lebte mit und durch seine Menschen, die ständig auf den Beinen waren. Sein Vater hatte die gemeinsamen Streifzüge durch New York immer als „Schatzsuche“bezeichnet. Als Lenny und Mati noch klein waren, drückte er ihnen eine „Seeräuber“-Karte in die Hand, die Bilder und Fotos von Gebäuden, Kirchen, Brunnen, Details, wie ein Wasserspeier, eine Verzierung, ein gotisches Kirchenfenster, eine interessante Eingangspforte oder eine Skulptur zeigten. Dann waren sie gemeinsam mit Lennys kleiner Schwester losgezogen, auf Schatzsuche. Sein Vater motivierte sie dazu, die auf der Karte abgebildeten Sehenswürdigkeiten zu entdecken, zu finden. Er wollte sie dazu anregen, auch auf die vielen kleinen versteckten schönen und einmaligen Details und Kleinigkeiten zu achten. Wenn sie als Team alles entdeckt hatten, versteckte der Vater eine Plastikdose mit Schokolade, Fußball- oder Starwars - Karten und der Schatz wurde gefunden und wenn möglich verspeist.
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