Yanick schauderte. „Beeindruckend!“
„Nicht wahr?“, sagte eine Stimme.
Yanick fuhr herum. An einem der Holztische auf der Terrasse saß eine Frau mit einem streng wirkenden Mund, der an beiden Mundwinkeln kleine Fältchen aufwies.
„Und dennoch schaue ich es mir lieber von einem schattigen Plätzchen an, als wirklich hineinzugehen“, sagte die Frau.
„Man kann sich seine Zeit besser vertreiben, als sich durch den Urwald zu quälen.“
„Mein Mann scheint sich gerne durch den Urwald zu quälen.“ Die Frau presste den Mund leicht zusammen, was die kleinen Fältchen um die Mundwinkel verstärkte.
„Tatsächlich? Wohin geht denn ihr Mann im Urwald?“
„Oh, keine Ahnung. Gestern war er mit einem Führer unterwegs. Der zeigt ihm alle Stellen.“
„Sie wissen nicht zufällig, welche Stellen ihr Mann schon gesehen hat.“
„Mein Mann hat es mir gesagt, aber ich habe es sofort vergessen. Jedenfalls hat der Führer ihn als erstes direkt in ein Vogelparadies geführt. Es war ein Versehen. Eigentlich suchten sie ein Aye-Aye. Doch stattdessen tausende von weißen… was-weiß-ich-was-für-Vögel. Für mich sind Kranich und Storch kaum zu unterscheiden.“
„Diese tausend Vögel, war das am Tlaga-See?“, fragte Yanick. Er holte seine eigene Landkarte hervor und entfaltete sie.
„Möglich. Ich mache mir nichts aus Namen. Sie klingen alle gleich. Tlaga, Saga, Haga. Wer erfindet so etwas?“
Yanick brachte das vor ihm liegende Gebirge mit der Landkarte in Übereinstimmung. Linkerhand lag demnach das wuchtige Massiv von Tsaratanana. Rechterhand ragte der spitze Marojezy auf. Zwischen den Bergen lag der grüne Kessel von Doany. Am Horizont schimmerte bläulich der Berg Andrahary, der beinahe 100 km entfernt war.
„Vielleicht der Hagasa-See?“
„Möglich… Durchaus möglich… Also dieser Morlang…“
„Morlang? Er ist mit Morlang unterwegs? Das erklärt einiges. Der kennt die Gegend wie seine Westentasche.“
„Behauptet er, aber tatsächlich ist er erst kürzlich hier. Vorher war er in den weiter westlich liegenden Naturreservaten.“
„Und warum ist er gewechselt?“
„Was weiß ich? Ich…“
Ein sehniger Mann joggte herbei. Der Schweiß rann ihm die Stirn hinunter, sammelte sich über den rötlich blonden Augenbrauen und bildete an den Seiten kleine Bäche. Er zog die letzten Meter noch einmal an. Dann erreichte er den Zaun des Hotels, an dem er eine Hand auf dem Geländer ruhend stehenblieb. Die andere Hand hielt er in die Seite gestemmt.
Yanick starrte den Mann an, der sich schnaufend am Holzgeländer festhielt. Er hielt ihn für geistesgestört. Wer bei diesen Temperaturen und dieser Feuchtigkeit joggt, konnte nicht ganz normal sein.
Der Mann schnaufte. „Boahhh… diese feuchte Hitze… die kann einen ganz schön zu schaffen machen… Normalerweise packe ich die Sache gut…“
„Schatz. Der Herr…“
„Müller!“
„Schmidthausen! Angenehm.“
„… der Herr Müller interessiert sich ungemein, wo du gestern mit Morlang herumgeturnt bist.“
„Ich… ich bin hier nicht herumgeturnt. Wir… haben uns durch den Dschungel geschlagen.“
„Und es war wild und abenteuerlich. Bist du irgendwelchen Ungeheuern begegnet?“
„Nicht im Wald.“
„Sei nicht so garstig.“ Frau Schmidthausen zog den Mundwinkel noch weiter herunter.
„Entschuldige!“
„Also, wo bist du gestern herumgeturnt?“
„An einem See.“
„Hagasa-See?“, fragte Yanick.
Der sehnige Mann sah ihn an. Dann nickte er. „Am Hagasa-See. Genau der.“
„Und wie sind Sie dorthin gelangt?“
„Gehen Sie morgen in den Urwald? Dann könnten wir uns doch zusammentun. In einer Gruppe macht es sogar noch mehr Vergnügen.“
„Sicher macht es das. Aber dennoch habe ich schon mein eigenes Programm aufgestellt.“
„Das lässt sich sicher mit unsrem verbinden. Am Morgen suchen wir Indris, doch den Programmpunkt am Nachmittag haben wir noch nicht festgelegt.“
„Schon. Aber ich bin schon vergeben mit anderen Leuten.“
„Umso besser. Dann bilden wir eine große Gruppe zusammen.“
„Schätzchen! Er will nicht mit dir in den Urwald gehen.“
„So habe ich das nicht gemeint“, meinte Yanick. „Mein Programm steht schon fest und ich…“
„Siehst du, Franziska? Du interpretierst wie immer viel zu viel in die Sachen hinein.“
„Ich bin eben nicht ganz blind.“
„Aber in diesem Fall lagst du falsch, oder etwa nicht?“
„Also, es liegt wirklich daran, dass alles schon fest vereinbart ist. Und ich muss jetzt leider gehen“, meinte Yanick und erhob sich. „Wissen Sie, wo man hier telefonieren kann?“
„Die Straße hinunter. Hotel Madirokely.“
Frau Schmidthausen schenkte ihm ein kurzes Lächeln und für einen Augenblick verschwanden die Fältchen im Mundwinkel.
Wenn sie ernst war, hatte man nicht den Eindruck, man könne mit ihr gut Kirschen essen, doch sobald sie lächelte, wirkte sie sehr anziehend, dachte Yanick und verließ die Terrasse.
Yanick ging die Straße ins Dorfzentrum hinunter. Im Vorbeigehen musterte er das leer stehende, vierstöckige Gebäude. Die Fensterscheiben waren zerbrochen. Er ließ das Gebäude hinter sich und gelangte schließlich zu einem braunen Haus, dem Restaurant Madirokely. Ein auffallend schöner Madagasse begrüßte ihn und sah wieder zu Boden. Yanick fragte nach dem Telefon und der Madagasse kam hinter der Rezeptionstheke hervor und führte ihn durch einen Flur bis zu einem Telefon.
Yanick wählte.
„Hallo! – Hallo, Sophie! Hier ist Yanick. Ist Armin da? – Wo ist er denn? – Komm sag schon. – Was? Wer hat da im Hintergrund etwas gesagt? … he… ich höre ihn doch im Hintergrund etwas murmeln… Sophie! – Ich muss ihn unbedingt sprechen. Ich muss von ihm wissen, wie ein Pekulani aussieht und wo ich ihn suchen muss. – Sophie, es ist wirklich wichtig. – Nein, ich ziehe ihn nirgendwo hinein… Sophie! Sophie!!!“
Yanick hörte nur noch ein Tuten in der Leitung.
Carolin stand vor dem mehrstöckigen Gebäude. Der Besitzer des Bungalows hatte ihre erzählt, dass es sich um eine alte, nicht mehr benutzte Vanillefabrik handelte. Sie überlegte, ob sie sich das leer stehende Gebäude ansehen wollte.
Sie zögerte. Schließlich entschied sie sich erst einige Unterlagen durchzuarbeiten. Deswegen ging sie auf die Grünfläche neben der Vanillefabrik. Sie fand ein schattiges Plätzchen, von dem sie das Dorf überblicken konnte. Sie legte sich ins Gras, holte einen grauen Schnellhefter hervor und legte ein Biologiebuch mit einem grünen Einband daneben. In dem Biologiebuch fand sie die Abbildung einer Spinne und vertiefte sich in den darunter stehenden Text. Die rabenschwarze Spinne wirkte so echt, als könne sie zum Leben erwachen und das Buch verlassen. Plötzlich wurde Carolin aufgeschreckt, weil sich jemand durch das Gras schlich. Dieser jemand trug eine khakifarbene Hose, an der ein Messer am Gürtel baumelte. Unwillkürlich griff sie an ihren eigenen Gürtel. Aber da war nichts, womit sie sich hätte verteidigen können. Sie duckte sich tiefer ins Gras und wollte sich unbemerkt von ihrer Stelle wegbewegen. Aber der Mann schien doch nicht sie anzuschleichen, sondern steuerte seitlich an ihr vorbei.
Sie erkannte den Mann, der sich an ihr vorbei schlich. Er bewegte sich auf den Fluss zu. Seinen Blick hatte er konzentriert nach vorne gerichtet. Er beobachtete entenartige Vögel, die am Ufer entlang watschelten. Das Geschnatter der Vögel schwoll in unregelmäßigen Abständen an und flaute wieder ab.
Carolin schlug ihr Buch zu und rief laut: „Peng.“
Der Mann richtete sich auf und drehte sich verdutzt zu ihr hin.
„Sie können es wohl gar nicht erwarten?“, fragte sie.
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