Sein Rucksack stand da, leer. Was sollte er auch einpacken? Er hatte noch von seinem letzten Urlaub eine halb vollständige Strandausrüstung mit Flossen, Taucherbrille und einem Fangnetz. Er besaß Stiefel, um auf Felsen herumzuklettern. Doch was braucht man, um einen Pekulani zu fangen?
Er sah wieder auf sein Handy. Seine 13 Anrufversuche leuchteten ihm auf dem Display entgegen. Doch keine Antwort.
Die Zeit wurde langsam knapp.
Er rief ein Taxi und ließ sich einige Häuserblocks weiterbringen. Yanick klingelte bei einem mehrstöckigen Haus.
Niemand reagierte auf sein Klingeln, also probierte er es bei einer anderen Wohnung. Eine ältere Dame ließ ihn ins Treppenhaus. Da es nicht für sie war, fegte sie weiter im Treppenhaus, allerdings ohne Yanick eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Yanick lief in den zweiten Stock, klingelte Sturm und pochte gegen die Tür.
Eine völlig verschlafen aussehende Frau öffnete ihm schließlich.
„Hi Sophie! Ist Armin da?“
„Bringst du das Geld vorbei?“
„Nein, ich muss mit Armin sprechen.“
„Er ist noch nicht ansprechbar. Komm später wieder.“
„Ich kann nicht. Ich verreise.“
„Komm später noch mal wieder.“
Sie wollte die Tür schon schließen.
„Ich kann nicht. Mein Flugzeug geht um 12 Uhr. Ich muss um 10 Uhr fertig sein.“
Sophie verzog einen Mundwinkel und machte ein wenig Platz.
Yanick rauschte vorbei. In Armins Zimmer hielt er sich die Nase zu. Armin hatte sich wohl in der Galerie zulaufen lassen.
Yanick nahm eine Mineralwasserflasche, die neben dem Bett stand und öffnete sie.
Er schüttete Armin etwas Wasser ins Gesicht.
Armin machte keinen Mucks.
Yanick leerte noch mehr Mineralwasser über Armins Kopf aus, dann schüttelte er ihn.
Ein Augenlid zuckte ein wenig.
„Armin, Armin. Wach auf!“
Yanick leerte die Flasche ganz.
„Oh…“ Armin stöhnte.
„Hey, hey Armin! Wach auf!”
Armin öffnete die Augen, starrte schräg an Yanick vorbei, verdrehte die Augen und sackte wieder weg.
„Armin!“ Yanick schüttelte ihn. „Armin! Was ist ein Pekulani? Und wie fängt man ihn?“
Armin öffnete erneut die Augen.
Yanick gab ihm zwei saftige Ohrfeigen.
Jetzt klärten sich die Augen Armins etwas.
Im selben Augenblick spürte Yanick einen Stoß gegen die Schulter und er segelte Kopf voran in ein Bücherregal.
„Jetzt langt es aber“, herrschte Sophie ihn an. „Er muss schlafen. Schlafen. Verstehst du?“
Yanick hielt sich die Stirn. „Klar, aber ich brauche ihn…“
„Aber er braucht dich gerade nicht. Er braucht Schlaf. Mir gefallen ohnehin deine Machenschaften nicht.“
Er rappelte sich hoch. „Wie meinst du das?“
„Immer, wenn du Armin brauchst, gibt es hinterher Probleme. Wie war das das letzte Mal? Ich brauche Armin, um einen BMW zu leihen. ZU LEIHEN! Dass ich nicht lache.“
„Ich habe den BMW doch zurückgebracht.“
„Ja, aber…“
„Ich musste halt schnell nach Basel, eine Kundin besuchen.“
„Wozu gibt es Züge?“
„Verstehe, verstehe.“ Yanick merkte, dass die Stimmung ungünstig war, um ihr die Sache zu erklären. Ihm war klar, dass sie nicht genügend Weitblick besaß, um den Sinn solcher Aktionen richtig einschätzen zu können. Woher sollte jemand wie Sophie wissen, dass man manchmal jemanden einfach beeindrucken musste? Er warf einen Blick auf die Uhr. „Du hast recht. Ich komme später noch einmal wieder. Das heißt… ich rufe ihn an.“
Yanick ging an Sophie vorbei. Sie folgte ihm bis zur Haustür.
Er zog die Tür hinter sich zu und rannte die Treppe hinunter.
„So eilig?“ Die ältere Dame im Treppenhaus hörte auf zu fegen. „Gehen Sie schon wieder?“
„Ja, ich fliege nach Madagaskar.“
„Um Gottes Willen! Was machen Sie denn da?“
„Ich gehe auf die Suche nach einem Pekulani“, rief er und lief weiter. „Den werden Sie nicht kennen.“
„Doch natürlich!“ Die ältere Dame stemmte entrüstet die Hände in die Hüften.
„Was?“ Er bremste so abrupt, dass er beinahe hingefallen wäre. Wie konnte eine Frau, deren Leben vermutlich nur aus Kreuzworträtseln und Putzgegenständen bestand, wissen, was ein Pekulani ist, fragte sich Yanick.
„Ich kenne natürlich einen Pekulani“, erklärte sie.
„So? Was...“
„Sie können nicht einfach behaupten, ich wüsste nicht, was das ist.“
„Ja, gute Frau. Sagen Sie doch...“
„Sie glauben doch nicht etwa, nur weil ich alt bin, weiß ich nicht mehr so genau Bescheid.“
Er warf einen weiteren Blick auf seine Uhr. „Jetzt sagen Sie doch...“
„Ich bin noch hundertprozentig am Ball. Fit und rüstig.“
„Natürlich. Dann sagen Sie mir doch bitte, was Sie meinen, was ein Pekulani ist, und ich sage Ihnen, ob Sie Recht haben. Einverstanden?“
„Gut. Ein Pekulani ist ein Vogel.“
„Ein… ein Vogel?“
„Ein Wasservogel, um genau zu sein.“
„Wasservogel? Aha… Prima. Phantastisch. Sie haben natürlich recht. Ich gratuliere Ihnen. Entschuldigen Sie, wenn ich anfangs meinte, Sie würden so etwas Einfaches nicht wissen.“
„Schon gut.“
Yanick rannte weiter die Treppe hinunter. Seine Augen funkelten vor Freude. Nach Madagaskar fliegen, das süße Leben genießen, ein Wasservögelchen fangen, 100.000 € einstreichen.
Ein besseres Los konnte man nicht ziehen.
Hätte Yanick sich etwas mehr Zeit gelassen, dann wäre ihm vermutlich aufgefallen, dass ein unsicheres Flackern über das Gesicht der älteren Dame huschte. Sie lehnte den Besen an die Wand und ging zurück in ihre Wohnung. Im Wohnzimmer öffnete sie nervös den Schrank und kramte nach ihrem Kreuzworträtsellexikon. In der Rubrik Wasservögel war bei sieben Buchstaben ein Pelikan aufgeführt. Im Bereich Waldvögel fand sie zur Frage ‚Waldvogel in Europa, Skandinavien und Nordamerika’ den achtbuchstabigen Pinicola.
Keinen Pekulani.
Sie brachte einfach alles durcheinander.
Dieser junge Mann, dachte sie. Er hatte nur deshalb nicht protestiert, weil er sie nicht kränken wollte. Alle im Haus wussten wohl schon längst, dass ihr Gedächtnis sie im Stich ließ. Jetzt war es sogar schon so weit, dass fremde Menschen es bemerkten, Rücksicht nahmen und sie anlogen.
Yanick legte das Lufthansa-Reisejournal zurück. Er nahm einen Schluck Tee und schaute aus dem Fenster. Sanft gewellte Wüstenlandschaften zogen unter ihnen vorbei.
Ein Wasservogel also, dachte Yanick.
Dass der Pekulani ein Wasservogel war, war ein großer Vorteil. Wasser war angenehm. Viel besser als Wüste oder Wald.
Wird die Leserschaft eines Reisejournals gebeten, die schönste Landschaft auszuwählen, gewinnen meist Strandbilder. Kurvenreiche Strände geschmückt mit Palmen und spärlich bekleideten Frauen. Glasklares Wasser. Bei der Wahl der schönsten Landschaft konnte man unter Umständen auch an Berge denken. Doch fast immer, wenn auf Photographien Berge gezeigt wurden, war der See nicht weit entfernt. Manchmal zeigte er sich nur durch ein verräterisches Funkeln.
Was wäre der Watzmann ohne den Königssee.
Beinahe nie schmückten Wälder die Titelseiten von Lufthansa-Reisejournalen. Zu feucht, zu dunkel, zu eng.
Auch Wüsten wurden nur selten in Fotoreportagen gezeigt. Und keines der Sahara-Hochglanzfotos konnte einem das Gefühl nehmen, dass die Fotos in Greifnähe eines klimatisierten Busses aufgenommen wurden.
Bossel nahm den Keks seines Lufthansamittagessens in die Hand. Er befreite ihn von seiner Plastikumhüllung und zerknüllte die Verpackung. Dann aß er den Keks und nahm einen Schluck Kaffee. Schließlich schob er das Essenstablett ein wenig zur Gangmitte. Bossel lehnte sich zurück und schloss die Augen.
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