‚Was macht er, wenn ich ‚nein‘ sage?‘, überlegte der Kommissar. Er wusste ja nicht einmal, worum es sich bei diesem ‚Auftrag‘ handelte.
„Natürlich nehme ich den Auftrag an“, hörte er sich sagen. Eine andere Wahl gab es schließlich nicht.
Würnitz grinste. „Das ist mein Mann“, nuschelte er und legte die Akte auf den Schreibtisch. „Es geht um Folgendes.“ Er öffnete den Pappdeckel und Jäger erkannte, dass die gesamte Akte lediglich aus einem Blatt Papier bestand. „Jäger, ich mache sie zum Großwild-Jäger“, grinste der Dicke hinter dem Schreibtisch und lachte meckernd. Als er Jägers säuerlichen Gesichtsausdruck bemerkte, stoppte er abrupt sein Lachen. „Ein Scherz, Jäger, ein Wortspiel. Sie haben aber auch keinen Sinn für Humor ...“
Jäger verkniff sich, seinem Chef zu erklären, dass er durchaus einen Sinn für Humor habe, sofern dieser nicht auf seine Kosten stattfand. Es reichte doch schon, dass er mit diesem Namen Ganoven jagte und in der Abteilung jede Menge Witze und Wortspiele über den Zusammenhang kursierten. Was sollte dann der Mist mit dem ‚Großwild-Jäger‘ jetzt wieder? „Was wollen sie mir damit sagen, Herr Würnitz?“
Der Dicke ließ sich in seinem überdimensionierten Chefsessel zurücksinken und legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander. „Haben sie von den Wölfen oder Wildtieren, die in der Stadt ihr Unwesen treiben, gehört?“, fragte er lauernd.
Jäger nickte. „Die Rede ist von einer oder mehreren Wildkatzen. Ich habe die Meldungen in der Presse verfolgt. Bisher hat aber noch niemand so ein Tier zu Gesicht bekommen.“
„Richtig Jäger“, nickte der Chef. „Es ist sogar eine Frau durch den Angriff eines Tieres zu Tode gekommen. Und zahlreiche andere Tiere, wie Schafe, Kühe und was-weiß-ich.“
Jäger unterdrückte ein Grinsen und fragte sich, was für Tiere diese ‚was-weiß-ich‘ seien. Er nickte bestätigend.
„Mittlerweile zieht die Angelegenheit ziemlich weite Kreise“, fuhr Würnitz fort und kratzte sich ausgiebig am Kopf. „Zuerst deutete alles auf ein Rudel Wölfe hin, doch mittlerweile weiß man, dass es sich um einen Tiger, Leoparden oder ...“
‚Oder was-weiß-ich‘, führte Jäger den Satz in Gedanken fort und musste nun doch ein wenig Lächeln.
„Was gibt’s denn da zu grinsen?“, fuhr ihn sein Chef auch direkt an. „Die Sache ist ernst, selbst das Ministerium hat sich inzwischen eingemischt. Die Bevölkerung lebt mittlerweile in Angst und Schrecken und da ist man an mich herangetreten.“ Würnitz legte erneut die Fingerspitzen vor seinem Bauch zusammen und machte eine Pause, um die Wichtigkeit seiner Person hervorzuheben.
„Es wundert mich nicht, dass die Herrschaften ausgerechnet auf meine Wenigkeit gestoßen sind. Wenn allerdings auch relativ spät.“
Jäger verdrehte die Augen. Jetzt folgte wieder die falsche Bescheidenheit Würnitz‘, die er noch mehr hasste, als dessen Monologe.
„Wir sind eine kleine Abteilung“, fuhr der Chef fort, „doch vermutlich hat sich die Effizienz unserer Mitarbeiter herumgesprochen. Es ist nur logisch, dass man meinen bescheidenen Rat suchte ...“
‚Ja sicher‘, dachte Jäger. ‚Vermutlich ist die Polizei gezwungen, sich mit der Sache zu befassen, da irgendein Minister blinden Aktionismus zeigen musste. Und wir sind überbesetzt, was liegt da also näher, als den Schwarzen Peter an uns weiterzugeben?‘ Doch der Kommissar schwieg und nickte lediglich erneut.
Würnitz betrachtete seine Wurstfinger und fuhr fort: „Wir haben in diesem Fall völlig freie Hand, doch an höherer Stelle drängt man auf Ergebnisse. Deswegen gründete ich die Sonderkommission ‚Tiger‘, die sie leiten werden. Ich selbst berichte höchstpersönlich dem Minister.“ Er lächelte den Kommissar selbstzufrieden an und schien auf einen Kommentar zu warten.
Jäger tat ihm den Gefallen und bemühte sich, einigermaßen enthusiastisch zu klingen. „Sonderkommission? Das hört sich wichtig an. Aus wie vielen Beamten besteht denn diese ‚Sonderkommission Tiger‘? Und wie konkret lautet die Aufgabenstellung?“
Würnitz blickte auf die Akte, dann sah er Jäger an. „Aus einem, nämlich ihnen. Und - wie ich schon sagte - wir haben völlig freie Hand, sie müssen lediglich Ergebnisse liefern.“
Jäger stöhnte leise. Das hörte sich nach einem Himmelfahrtskommando an. Kein Wunder, dass niemand von den Kollegen den Auftrag übernehmen wollte. Er würde einem Phantom hinterherjagen, einem wilden Tier, das bisher niemand zu Gesicht bekommen hatte. Und zu allem Überfluss warf ein Ministerium ein Auge auf seine Ermittlungen, die vermutlich im Sande verlaufen würden. Bei dieser ‚Großwildjagd‘ konnte er sich einfach nicht mit Ruhm bekleckern und damit würde vermutlich auch seine Karriere ein jähes Ende finden oder zumindest ins Stocken geraten. Bestenfalls dürfte er schließlich bis zur Pensionierung als kleiner Kommissar hinter Einbrechern herjagen ...
„Wie stellen sie sich das vor?“, fragte er leise. „Soll ich mit einem Jagdgewehr durch die Stadt ziehen und hoffen, auf dieses Tier oder ein Rudel durch Zufall zu stoßen? Bisher hat doch niemand diese Wildkatze - oder was auch immer - zu Gesicht bekommen.“
Würnitz betrachtete wieder seine Fingerspitzen. „Sie haben völlig freie Hand. Allerdings rate ich davon ab, mit einem Gewehr durch Düsseldorf zu laufen. Gehen sie diskret vor, Jäger. Benutzen sie ihren Kopf! Und handeln sie effizient!“ Er beugte sich im Sessel vor und schob dem Kommissar die Akte hin. „Hier finden sie alle wichtigen Informationen. Daraus geht hervor, dass eine Tierärztin vom Veterinäramt in den Fall involviert ist. Sprechen sie mal mit der Frau, vielleicht weiß die mehr über diese Tiere.“ Er machte eine Pause, legte die Fingerspitzen wieder aneinander und lächelte. „Jedenfalls besteht bis zur Klärung der Sache eine Urlaubssperre ...“
Jäger sah seinen Vorgesetzten erschrocken an. „Ähm“, gab er dann vorsichtig von sich, „mein Urlaub wurde doch schon genehmigt. Immerhin habe ich eine Reise gebucht ...“
Würnitz schüttelte den Kopf. „Urlaubssperre, Jäger. Stornieren sie ihre Reise. Hier geht es um nationale Interessen, da müssen sie doch einsehen, dass der Urlaub des Herrn Kommissars Jäger wirklich nebensächlich ist. Aber vielleicht lösen sie den Fall ja bis dahin, dann können sie nach Lust und Laune verreisen.“
Jäger wusste, dass es keinen Sinn machte, mit seinem Chef zu diskutieren. „Und wer übernimmt die Stornierungskosten?“, fragte er, obwohl ihm die Antwort schon bekannt war.
Würnitz hob beide Hände über den Kopf, sagte aber nichts.
„Und was ist mit meinen aktuellen Fällen?“
„Die übernimmt Neelen, sie sind völlig freigestellt. Und nun ran an die Arbeit, es gilt keine Zeit zu verlieren! Ach ja, bevor ich es vergesse: Kein Wort an die Presse, Jäger. Das geht alles direkt vom Ministerium aus. Informieren sie mich nur regelmäßig über ihre Fortschritte.“
Jäger nahm die Akte und schlurfte zu seinem Arbeitsplatz zurück. Da hatte sein Chef ihm ja eine schöne Scheiße eingebrockt! Aber irgendjemanden musste es ja treffen, doch warum ausgerechnet ihn? „Du bist abkömmlich“, sagte der Kommissar zu sich selbst und betrachtete das einsame Blatt zwischen den beiden Pappdeckeln. Die Informationen darauf waren mehr als dürftig, jede Pressemeldung enthielt mehr Daten. Das einzig Interessante war der Name der Tierärztin, die sich wohl schon mit den toten Tieren beschäftigt hatte. Jäger grinste. ‚Michiko Otsuka‘ hörte sich chinesisch oder japanisch an. Hoffentlich war die Frau überhaupt der deutschen Sprache mächtig. Aber in Düsseldorf gab es ja inzwischen auch ein japanisches Viertel, das ‚Little Tokyo‘ mit immerhin mehr als achttausend Japanern. Und die Stadt feierte regelmäßig einen sogenannten ‚Japan Tag‘. Michiko Otsuka würde also vermutlich Japanerin sein. Warum aber auch nicht, Hauptsache er konnte sich mit ihr unterhalten.
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