Er hatte schon in der Schule keinen Augenblick still sitzen können. Seine Lehrer pflegten immer zu behaupten, er sprühe vor überbordender Energie – überbordend , dieses Wort hatte ihn besonders beeindruckt.
Nur eben in die falsche Richtung. Seine Energie sprudelte nicht in Richtung Latein und Mathematik, sondern zur Schulhofmauer, hinter der die Apfelbäume lagen.
Unerklärlich, dass er sich ausgerechnet daran erinnerte, aber nicht an das, was passiert war.
Irgendwo da vorn war etwas, das wie ein Stadtzentrum aussah. Schaufenster, Portale, Plakatwände. Helfen Sie uns , dass unsere Brüder in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik keine Bürger zweiter Klasse werden! verlangte ein Plakat. Es war am unteren Rand mit Hakenkreuzen beschmiert.
Ach ja, die Wiedervereinigung. Gorden erinnerte sich undeutlich, irgend etwas mit dem anderen Teil Deutschlands zu tun zu haben.
Am Kreisverkehr bestieg er ein Taxi. Er versuchte vergeblich zu sagen: Universität , bitte , schnell ... Da, wo seine Zunge sonst willig gehorchte, war nur ein teigiger Klumpen, fast ohne Gefühl, ein Loch oder Nichts in der schwammigen Masse seines Mundes.
Der fragende Blick des Fahrers hing an seinen unbewegten Lippen.
Eine lange, quälende Zeitspanne verstrich, in der sie sich musterten wie zwei Idioten, die Probleme mit der Verständigung hatten. Der eine, weil er unfähig war, Gedanken zu lesen, der andere, weil er kein mühsam gestammeltes Wort herausbrachte.
"Ist Ihnen nicht gut?"
"Fahren Sie mich zur Universitätsbibliothek", sagte Gorden, als habe er nie irgend etwas so sicher beherrscht, wie flüssig zu sprechen. "Hintereingang."
Er horchte dem Geräusch der quietschenden Reifen nach, als der Wagen durchstartete, wie um ihn, den armen unberechenbaren Irren, möglichst schnell an seinem Ziel abzusetzen.
Na also, geht doch, dachte er. Alles eine Frage des Willens. Und wie viel mehr erst des guten Willens? Halleluja, ich werde fromm.
Angst trieb die verirrten Schäflein in die Arme des großen Schäfers zurück.
Das Wort Gethsemane kam ihm in den Sinn. Nein, aber im Ernst, Gorden, der gute Wille regiert die Welt. Sie weiß nur noch nichts davon. Er ist das große Sesam-öffne-dich.
Der schlechte ist nur sein ewig unterlegener Schatten, ein eitler, eifersüchtiger Scharlatan, der sich wie der Herr der Welt gebärdet.
Die Morgensonne schob sich rot und furchteinflößend groß über das Dach des Telegrafenamtes. Ein Feuerball, von dem man nicht recht wusste, auf wessen Seite er stand.
Dagegen nahm sich die schwarzgraue Backsteinfassade des Postgebäudes geradezu vertrauenerweckend gewöhnlich aus. Die Fensterkreuze wirkten mit ihren tiefen Nischen wie ins Halbdunkel gerückte Altäre. Gorden versuchte sich an ihren Anblick zu erinnern:
Er tat sozusagen probeweise so, als fahre er diese Strecke jeden Morgen zur Arbeit, um die Erinnerung hervorzulocken.
Aber da war keine Erinnerung. Es schien Herbst zu sein, mit einer deutlichen Ahnung von Winter und Feuchtigkeit oder erdigem Geruch in der Atmosphäre, als wittere man schon die Fäulnis in den Stielen, obwohl es schwülwarm war. Die meisten Passanten trugen Sommerkleidung. Ihrem leicht vorgebeugten Gang war anzumerken, dass sie es eilig hatten.
Einem klaren und deutlichen Ziel zuzustreben, und sei es auch nur eine Kaufhaustheke oder das nüchterne Büro einer Kohlenhandlung, kam ihm plötzlich erstrebenswerter vor als alles andere. Was ihn aufrecht hielt, war nur dieses eine Wort: Universität .
Er spürte, dass sich damit irgend etwas von Bedeutung verband. Aber was genau, das hätte er nicht zu sagen vermocht. Es war wie eine Ahnung im Dunstkreis des Begriffs. Man konnte assoziieren: Bibliothek, Büros, keine Gefahr, Türen schließen, Vorsicht, Gorden ...
Nein, nicht Gorden. Saul oder Paul, Paul oder Saul, Benjamin oder der Geist über den Wassern ... Beklemmung überkam ihn, als er sah, wie leicht sich sein Verstand verwirrte.
Die Klarheit und Ruhe in der Leere waren einem unbestimmten Gefühl des Grauens gewichen. Desorientierung , die stärkste Waffe überhaupt. Hatte er das nicht irgendwann gelernt?
Aber wo und bei wem? Irreführung, Desorientierung, Desinformation ... wie kam er auf Desinformation?
Desorientierung konnte einen Menschen zugrunde richten.
Wenn man jemandem seine gewohnte Umgebung nahm, und dazu gehörten auch seine Überzeugungen, seine unausgesprochenen Gedanken und der Sinn, den er seinem Leben beimaß, dann zerstörte man damit viel mehr, als wenn man ihn bloß demütigte oder ausraubte.
"Acht fünfzig."
"Bitte?"
"Hinterausgang Universität ..."
"Sind Sie sicher, dass ich zur Universität wollte?" Gorden musterte skeptisch die gläsernen Schwingtüren.
Das Gebäude war mindestens zwölf Stockwerke hoch, eine anonyme graue Wand aus Fensterscheiben, in denen sich die Wolkenberge spiegelten. Im obersten Stockwerk befanden sich umlaufende Balkone aus ungestrichenem Beton.
Das Wort Mauersegler kam ihm in den Sinn. Richtig: Von dort oben hatte sich schon mancher lebensmüde Student in die Tiefe gestürzt. Aber wo war sein Ziel? Welche Tür hätte er ansteuern sollen?
"Das fragen Sie besser Ihren Psychiater, Mann ... Achtfünfzig. Und versuchen Sie mir nicht auf die Tour mit dem sanften Irren zu kommen."
"Ich bin vielleicht irre, aber ich war nie sanft."
Gorden lächelte verklärt.
Das Gefühl, sich seine Verrücktheit einzugestehen, befreite ihn für einen Augenblick von seiner Angst und Verwirrtheit. Eine kostbare Sekunde lang, in der man wieder Hoffnung schöpfen konnte.
Er durchsuchte seine Jackentaschen nach ein paar Münzen. Dann hob er eine Hand über den Kopf und flüchtete vor dem beginnenden Regenschauer in die Eingangshalle. Der Taxifahrer blickte ihm nach, als habe er nicht alle Tassen im Schrank.
Drinnen wandte er sich noch einmal zurück, presste seine Nase gegen die Glastür – und war entsetzt zu entdecken, dass die staubigen grauen Steinplatten draußen keinen einzigen Tropfen zeigten. Er sah zum Himmel hinauf und wartete ...
Schon ein einziger winziger feuchter Kreis wäre die Erlösung gewesen. Hier drinnen war es kühler als draußen, trotzdem hatte er zu schwitzen begonnen bei dem Gedanken, dass wieder seine Halluzinationen anfangen könnten.
Rauchte er, oder war er Nichtraucher? Seine Handflächen klopften synchron und langsam nach unten vordringend die Außentaschen des Sakkos ab. Vergeblich. Also Nichtraucher.
Gorden starrte weiter durch die Scheibe in das nun bleiern und grau wirkende Licht hinaus …
Die gelbliche Färbung über den Dächern schien ein Gewitter anzukündigen. Also doch Tropfen? – Regentropfen, die auf dem warmen Stein sofort wieder verdunstet waren?
Er dachte an die Frau des Blockwarts während seiner Studienzeit. Wieder so ein Erinnerungsfetzen, der aus dem Nichts zu kommen schien. Sie war in ein Heim gebracht worden, weil sie stundenlang vor dem Haus darauf wartete, dass der große Mehlbeerbaum seine Blätter abwarf.
Sie stand da und starrte erwartungsvoll die Äste an. Ihre Nachbarn hatten milde gelächelt und sich an die Stirn getippt. Es war Sommer gewesen. Im Herbst hatte man sie schließlich mit Medikamenten so weit gebracht, ihren eigenen Namen zu vergessen.
Wenn er etwas fürchtete, dann waren es diese Viehdoktoren in den Anstalten.
Er ging über die Dachterrasse, und im selben Moment, als er um die beiden Belüftungstürme aus verzinktem Stahlblech bog, entdeckte er zwischen der Mauerumrandung und dem Kasten des Fahrstuhlschachts eine geblümte Sonnenliege. Im schäbigen Grau des Betons wirkte ihr Anblick so überraschend, dass er sich verwundert die Augen rieb.
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