1 ...8 9 10 12 13 14 ...22 In ihrem Roman »Hetzjagd« (orig. »Swerve«) lässt Autorin Vicki Pettersson die Ich-Erzählerin Kristine Folgendes denken:
»…
Ich habe Daniel erzählt , dass ich in der beschissenen Wüste nicht eingefangen werden konnte.
Ich fahre mit der Hand über meine Stirn, wische den Schweiß ab, der an meinem Haaransatz klebt, und stampfe den Gedanken ein. Ärger über Daniel geht in die falsche Richtung; er ist ebenso ein Opfer, wie ich das bin. Aber, Gott, falls etwas diese Rüstung aufbrechen kann, die ich im vergangenen Jahrzehnt so festgehämmert habe, dann ist es diese unnachgiebige Sandfalle.
Es gibt kein Fließen hier, du kannst nicht weich sein. Du kannst nichts weiter tun, als dich so lange an den Kanten der Wüste zu schärfen, bis du spröde bist wie Feuerstein.
…«
(Vicki Pettersson, »Swerve«, Gallery Books 2015, eigene Übersetzung)
Dass jemand in solchen Metaphern über sich nachdenkt, zumal in einem Moment akuter Lebensgefahr, ist der Nähe (für viele Leser) zu viel. Die Autorin gibt sich zwischen den Wörtern zu erkennen, die Situation wird unglaubhaft und die Leser werden aus der Story gerissen. Dabei zeigt die Autorin den richtigen Weg: Sie bleibt mit ihren Metaphern in derselben Bilderwelt von Sand und Stein und hält dadurch den Text zusammen. Nur wäre hier weniger, wie so oft, mehr gewesen.
Stellen Sie sich den Leser vor, wie er Ihren Roman als Bild auf einem Monitor betrachtet. Zu weit weg, und er sieht nicht, was vor sich geht. Zu nahe, und das Bild löst sich in zusammenhanglose Pixel auf.
Damit verwandt ist eine weitere Gefahr: Nähern Sie sich Ihrem POV-Charakter zu sehr, riskieren Sie den Tunnelblick– die andere Seite der Selbstfokussierung. Alles, was außerhalb des Charakters liegt, erscheint den Lesern unwichtiger oder unschärfer, vielleicht nehmen sie es gar nicht erst wahr. Mit zu viel Innensicht rauben Sie den Lesern den Blick auf das Umfeld, auf Schauplatz und Setting, auf Ereignisse und Handlung, und vor allem auf andere Charaktere. Der Roman wirkt skizzenhaft, unzureichend beschrieben, in den Lesern bleiben die inneren Bilder aus.
Achtung!
Jeder Satz, den Sie dem Innenleben Ihres Charakters widmen, fehlt den Lesern bei der Außensicht auf Umfeld und andere Figuren. Selbst wenn Sie Ihren Roman darum doppelt so dick machen, bremst zu viel Innensicht die Handlung aus.
Eine andere Gefahr nahen Erzählens ist indirekter Art: Allein mit der Perspektive holen Sie die Leser nicht dicht an Ihre Charaktere heran.Zwei entscheidende Faktoren fehlen: Zum einen das, was zwischen den Zeilengeschieht. Zum anderen die Backstory. Das Wissen um wichtige Ereignisse und Schlüsselinformationen aus dem (Vor-)Leben eines Charakters gehört für die Leser zu einer intimen Kenntnis dieses Charakters. Auch zur Identifikation und Immersion trägt die Backstory bei.
Je intensiver die nahe Erzählweise ist, desto mehr riskieren Sie, dass die Leser sich eingesperrt fühlen. Das umso eher, je unsympathischer oder schwerer zugänglich ihnen Erzähler oder erzählender Charakter erscheinen. Auch für die Leser unerträgliche Schilderungen schrecklicher Ereignisse können die erzwungene Nähe zu einer klaustrophobischen Erfahrung machen.
Riskant kann zu große Nähe auch dann sein, wenn Sie sich in den Gefühlen und Gedankengängen des Charakters verlieren und den Lesern statt Handlung immer nur Innenleben präsentieren.
Verloren hat sich auch Joe Hill in folgendem Beispiel:
»…
Sie flog durch eine Stadt, die kaum mehr als eine gelbe Ampel war, die über einer Kreuzung mit vier Fahrtrichtungen hing. Vic hatte vor, ihr Motorrad laufen zu lassen, bis ihr das Benzin ausging, und dann könnte sie es fallen lassen, die Triumph im Dreck zurücklassen und einfach weiterlaufen, mitten auf der Straße, bis die verdammte Shorter-Way-Brücke erschien oder ihre Beine nicht mehr wollten. Bloß würde sie nicht erscheinen, weil es keine Brücke gab. Der einzige Ort, an dem der Shortaway existierte, war in ihrem Kopf. Mit jedem Kilometer wurde ihr das klarer. Es war das, worauf ihr Psychiater immer bestanden hatte: eine Fluchtluke, durch die sie sprang, wenn sie mit der Realität nicht zurechtkam, die tröstende Machtfantasie einer gewalttätig depressiven Frau mit einer Krankheitsgeschichte von Traumata.
…«
(Joe Hill, »N0S4A2«, Gollancz 2013, eigene Übersetzung)
Protagonistin Vic ist als Kind mehrmals über eine aus dem Nichts erscheinende Brücke zu weit entfernten Orten gereist. Die Leser haben es miterlebt. Sie wissen, dass Vic sich die Brücke nicht eingebildet hat, sie wissen auch, dass Vic sich das später so lange einredete, bis sie selbst glaubte, die Brücke sei bloß eine Wahnvorstellung. Hill schildert ihren inneren Konflikt hier nicht zum ersten Mal. Er ist dicht bei Vic, zu dicht, denn er verliert die Leser aus dem Blick. Für sie hält Vics innerer Konflikt keinerlei Spannung mehr bereit, es ist überflüssig, sie ein weiteres Mal da durch zu schicken. Das ist mindestens Platzverschwendung und verlangsamt den Roman. Vermutlich, und das ist gravierender, fühlen sich die Leser mehr und mehr von Vic genervt.
Hill hätte das leicht lösen können: diesen inneren Konflikt einmal ausführlicher darstellen und danach nur noch darauf verweisen.
Die vielleicht größte Gefahr nahen Erzählensist, dass Sie melodramatischwerden und Ihnen die Leser die zu zahlreichen und zu extremen Emotionen und Emotionswechsel nicht mehr abkaufen.
Doch wo das Zuviel an herbeigeschriebener Nähe aufhört, wo das Melodrama endet, das ist von Leser zu Leser anders. Die den kreischenden Medienwahnsinn gewohnten Mädchen der 2010er-Jahre können anscheinend viel ab, zumindest denken das die Autorin und ihr Verlag. Wer weiß, vielleicht haben sie ja recht.
»…
Die U-Bahn ist brechend voll, weil sich niemand diesem grimmigen Februar und seinem schneidenden Wind aussetzen will. Im gesamten Wagen drängen sich Menschen in dicken Jacken und Wollschals, mit großen Taschen und Aktenkoffern, Frauen mit Kinderwägen und Männer auf dem Weg zu wichtigen Terminen. Die meisten starren auf ihre Smartphones, tippen irgendwelche Nachrichten oder hören Musik. So wie ich. Wir sind alle in unserer eigenen Welt, ganz dicht beisammen. Isoliert in dieser Nähe, die keiner wirklich will, aber jeder stillschweigend erträgt. Wir schotten uns ab, senken mal den Blick, lassen ihn mal schweifen. Ich versuche, seinem auszuweichen, versuche mich loszureißen, aber meine Augen gehorchen mir nicht. In diesem Meer aus Gesichtern sehe ich nur noch seines. Ich tauche ein in die Art, wie er mich ansieht, in diesen Blick, der jeden Muskel in meinem Körper anspannt. Sein schiefes Lächeln wird zu einem Sog, der mich mitreißt, und alles, was übrig bleibt, ist der wohlige Schauer, der mir langsam über den Rücken läuft und jedes noch so kleine Härchen an meinem Nacken aufrichtet. Für einen Moment fallen meine Augen zu, dann erinnern sie sich an ihn und finden ihn in der Menge, in dieser Festung aus Körpern, die mich umgibt. Ihre Hitze liegt wie feuchter Nebel auf den Scheiben. Meine Arme und Beine kribbeln, während die U-Bahn unaufhaltsam durch die Dunkelheit rast. Die Luft ist abgestanden, fast tropisch. Wie ein Stück Regenwald mitten im Großstadtdschungel. Ich spüre, wie sich ein dünner Film auf meiner Haut ausbreitet. Wie mir das Herz bis in die Schläfen hämmert. Ich zittere innerlich. Überall. Jake Buggs Stimme begleitet den Moment, und das Lächeln in meinem Gesicht tut, was es will. Es ist, als würden sich unsere Blicke unterhalten, sich erkennen, wie aus einem anderen Leben. Ich lausche weiter dem Lied, während ich mich in seinen Augen verliere. In ihren strahlend blauen Tiefen und in dem, was dahinter schimmert.
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