Andere Leser – oder dieselben Leser zu einer anderen Zeit, in einer anderen Stimmung – ziehen die Distanz einer zu großen Nähe vor. Ihnen hilft der Abstand zu den Ereignissen einer Geschichte, um ihr eigenes, zu intensives (was meistens heißt: zu stressiges) Leben abzutönen. Sie möchten gar nicht in die Haut eines anderen schlüpfen, sondern genießen es, die dramatischen Vorgänge aus der Ferne zu betrachtenund sich einmal nicht mit hochkochenden Emotionen zu befassen, über den Dingen stehen zu dürfen, statt mittendrin zu stecken. Männer scheinen vermehrt zu dieser Gruppe zu gehören, denn selbst die raren Romanleser unter ihnen bevorzugen häufig die nüchternen und damit distanzierteren Genres wie Krimi, SciFi oder Hochliteratur.
Bei der Auswahl der Erzählperspektive geht es daher um sehr viel mehr als nur darum, welches Personalpronomen Ihnen sympathischer ist. Eine der ersten Fragen, die Sie klären sollten, ist die nach der Nähe, die die Leser zu Ihren Figuren und insbesondere zu Ihren Protagonisten empfinden sollen. Je näher die Leser an einer Romanfigur dran sind, desto eher identifizieren sie sich mit ihr und desto bereitwilliger, leichter und tiefer versinken sie in Ihrer Story.
Ein bestimmtes Maß an Nähe oder Distanz der Leser zu Charakteren und Geschichte herzustellen ist Ihr Ziel – die Erzählperspektive und deren Ausgestaltung sind die Mittel, mit denen Sie es erreichen.Anders gesagt: Werden Sie sich erst darüber klar, wie nahe Sie Ihre Leser an Charaktere, Story und Thema heranholen wollen – und dann entscheiden Sie sich für die Perspektive, mit der Ihnen das am besten gelingt.
Was genau meinen wir mit der Nähe der Leser zu einem Charakter? Stellen Sie sich zwei Personen in einem Zimmer vor (Ihrem Wohnzimmer), die Romanfigur und den Erzähler. Wenn Sie sehr nahe erzählen, stellen Sie Ihren Erzähler dicht neben die Figur. Er drückt seine Wange gegen ihre und schaut in dieselbe Richtung. So nahe, Wange an Wange, sehen beide das Gleiche, sie riechen sogar das Gleiche, und wenn die Romanfigur einen Bissen von ihrem Teller nimmt, steckt sich auch der Erzähler einen Bissen vom selben Teller in den Mund. Der Erzähler, leicht telepathisch begabt, hört aus dieser Nähe, was die Romanfigur denkt, und der Erzähler, stark empathisch, fühlt, was die Romanfigur fühlt.
Je nachdem, wie gut er erzählen kann, holt er die Leser mit zu sich und an die Figur heran. Dann ist es, als ob nicht der Erzähler da stünde, sondern an seiner Stelle die Leser. Und wenn es mit der Identifikation klappt, vergessen die Leser den Erzähler und schlüpfen in den Charakter hinein.
Entfernt sich Ihr Erzähler von der Romanfigur und stellt sich ans andere Ende des Zimmers, sieht er nicht mehr exakt das Gleiche, sein Geruchssinn nimmt Düfte schwächer wahr und die Gedanken werden nicht länger alle empfangen, die Gefühle werden nicht mehr genau nachempfunden. Trotzdem bleibt das Erzählen personal[Fußnote 13] im Sinne eines begrenzten Wissens, weil beide, Erzähler und Figur, sich dennoch am selben Ort befinden und zum Beispiel nur undeutlich hören, was in der Küche nebenan vor sich geht, und nichts davon sehen, was im Keller, zwei Stockwerke tiefer, geschieht. Entsprechend kann der Erzähler auch den Lesern nur diese eingeschränkten Erfahrungen, diese undeutlicheren Gefühle mitteilen.
Achtung, Missverständnis droht!
Es geht in den meisten Romanen nicht darum, dass die Leser genau das Gleiche empfinden sollen wie der Charakter, auch nicht in abgeschwächter Form. Tatsächlich ist die emotionale Reise der Leser eine andere als die der Figuren. Es geht selbst bei einer emotionalen Bindung, bei großer Nähe und Identifikation eben um das: eine Verbundenheit, die durch Mitgefühl entsteht: »Mich Leser berührt, wie du Charakter leidest.« Es geht nicht darum, dass Ihre Leser leiden. Hoffe ich …
Denken Sie umgekehrt an die zentrale Emotion »Spannung«. Diese wollen Sie in Ihren Lesern hervorrufen, sicher nicht in Ihren Charakteren.
Möchten Sie die Leser also möglichst dicht an Ihren Charakter heranbringen, sie tief in seinen Kopf, seine Gefühle lassen und sie damit berühren?
Große Nähe fungiert als Vergrößerungsglas: Der Charakter wirkt massiger, stärker, wichtiger, Details erlangen mehr Bedeutung – und ein solcher Charakter unter der Lupe ist eher in der Lage, auf glaubhafte Weise einen Roman zu tragen. Mehr noch: Ein dem Leser naher Charakter erschafft den Roman mit seinen Entscheidungen und Taten leichterund organischer als eine dem Leser ferne Figur. Denn der nahe Charakter wirkt selbstbestimmter, eigenständiger, während die ferne Figur zu einer Marionette des, vergleichsweise, starken Erzählers zu werden droht. Anders gesagt: Ein Charakter, der dem Leser sehr nahe ist, scheint einen eigenen Willen zu haben, er oder sie sitzt am (Plot-)Hebel, nicht der Erzähler, nicht der Autor.
Oder möchten Sie die Leser auf Abstand halten? Das ist wahrscheinlich dann die bessere Lösung, wenn Sie aus einer ironischen Distanz erzählen. Es lacht sich leichter über Figuren, denen man weniger nahe ist.
Auch um die Gefühle der Leser zu schützen, kann mehr Distanz sinnvoll sein. Denken Sie beispielsweise an einen Handlungsstrang aus der Perspektive eines psychopathischen Kindermörders – zu viel Nähe über zu viele Seiten könnte das Lesen hier buchstäblich zur Qual machen.
Eine hilfreiche Frage
Wollen Sie von einem Charakter erzählen (distanziert) oder als der Charakter (nahe)?
Nähe zu den Charakteren ist nicht die einzige Nähe. Sie können die Leser auch oder stattdessen näher an die Ereignisseführen, also an die Story, oder näher ans Thema.
So mag ein auktorialer Erzähler durch sein Sichtbarwerden zwar die Nähe zu den Charakteren stören, zugleich aber mehr Nähe zu dem herstellen, was sich ereignet, etwa über seinen allwissenden Überblick oder das Herausarbeiten von Auffälligkeiten und Mustern, die der einzelnen Figur nicht zugänglich sind. Ebenso kann der auktoriale Erzähler eine spannende Diskussion der im Roman verhandelten Werte schildern. Damit holt er die Leser bei Wertefragen heran, bleibt den Charakteren jedoch relativ fern.
Nähe heißt hier zudem, dass Sie den POV-Charakter die Ereignisse und Taten, das ganze Umfeld bewertenlassen: durch Reaktionen in Form von Gedanken und Gefühlen. Erst diese Bewertungen geben den Lesern einen Kontext und Anhaltspunkte, sich ihr eigenes Bild zu machen, erst diese Bewertungen erlauben es ihnen, den POV-Charakter kennenzulernen.
Reagiert die Protagonistin auf eine Beleidigung mit Trotz? Mit Humor? Oder zieht sie sich innerlich zurück? Liebt der Held seine Arbeit als Forensiker? Oder leidet er unter dem Anblick eines Kinderherzens auf einer Waage im Leichenschauhaus? Beobachten die Leser die beiden Protagonisten nur bei diesen Ereignissen und Handlungen, ohne in ihr Innenleben zu blicken, können sie ihnen nicht nahekommen. Mehr noch: Ohne diese Orientierung durch die Innenschau wissen die Leser nicht, was sie selbst empfinden sollen. Erst die Nähe zu den Charakteren gibt den Lesern eine Richtung oder eine Schablone für ihre eigenen Emotionen.Und wie Sie wissen, sind die Emotionen der Leser das Wichtigste bei Ihrem Roman, für Sie zugleich Ziel und Kapital.[Fußnote 14]
Für einen angenehmen Lesefluss sorgt eine rhythmische Abwechslung aus Außensicht und Innenschau, sodass sich eine Abfolge ergibt, die so natürlich wirkt wie atmen.
Faustregel[Fußnote 15]
Zu viel Außensicht tötet die Emotionen, zu viel Innenschau tötet die Handlung.
Das für Ihren Roman oder für einen Handlungsstrang richtige Verhältnis Außensicht zu Innenschau hängt vom Genre und von der Art Roman ab, die Sie schreiben.
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