1 ...7 8 9 11 12 13 ...22 Achtung!
Bloß tief in einen Charakter hineinzugehen, garantiert nicht, dass die Leser sich ihm nahe fühlen. Wenn die Leser den POV-Charakter oder den Erzähler nicht mögen oder sich nicht für ihn interessieren oder wenn Sie die Sache sprachlich oder stilistisch ungeschickt darstellen, empfinden die Leser trotz Tiefe keine Nähe.
Der Bewusstseinsstrom kann ein hervorragendes Mittel zur kurzfristigen (!) Herstellung großer Nähe sein. Doch spätestens nach einer Seite dürften die meisten Leser genug haben.
Im folgenden Ausschnitt geht es um den Sprung aus einem Hubschrauber auf ein Dach mit Oberlicht. In der kritischen Phase der Szene wechselt Autor Tim Willocks von der nahen drittpersonalen Sicht zur ultranahen Sicht eines Bewusstseinsstroms – der hier sogar noch tiefer ausfiele, würde Willocks ihn aus der Ich-Perspektive schreiben.
»…
Grimes sah den Staatsanwalt an. »Ich bin froh, dass du so denkst«, sagte er. »Denn du kommst mit mir da rein.«
Er wandte sich von Atwaters erbleichendem Gesicht ab und nickte Titus Oates zu.
Grimes sagte: »Das ist die Belohnung der Ungläubigen.«
Titus Oates sagte: »Amen.«
Dann legte Oates seine Schrotflinte an die Schulter und pumpte zwei Ladungen großkalibrigen Schrots durchs Oberlicht.
Grimes sprang durch die Ladeluke und ließ sich fallen.
Eindruck: Seine Eingeweide kommen ihm durch die Kehle hoch. Intensive Hitze auf seinen Handflächen. Blendendes Licht. Stahlstäbe. Fallen. Zu schnell.
Drücken. Brennen. Blick nach unten.
Eindruck: Wellblech rast auf ihn zu. Die Knie gebeugt. Hält sich fest. Seine Füße schlagen auf das Blech, die Beine knicken ein. Seine Hüfte. Seine Schulter. Sein Atem wird ihm ausgetrieben. Das Brennen lässt nach. Nach unten rutschen, sich auf den Rücken drehen. Der Rand des Blechs rast näher. Er krallt sich mit aller Kraft am Seil fest.
Eindruck: ein weißer Knall auf der Rückseite seines Schädels. Baumeln. Er rutscht immer noch. Das Schnappen des Seilendes. Seine Handflächen plötzlich leer. Grimes fiel zwei Meter auf eine hölzerne Plattform, Knie und Schulter wie zerschmettert, er rollte. Die Plattform verschwand. Er stürzte drei Fuß tiefer auf harte Fliesen. Außer Atem. Er öffnete die Augen.
…«
(Tim Willocks, »Bloodstained Kings«, Jonathan Cape 1995, eigene Übersetzung)
Nähe bezieht sich auch auf die Fragen, wie leicht und wie bereitwillig sich die Leser mit dem Protagonisten identifizieren. Wenn den Lesern das Leben (seine Backstory) oder die Persönlichkeit des Protagonisten vertraut ist, fällt ihnen die Identifikation leichter. Hier spielt das Einfühlungsvermögenmit hinein.
Umgekehrt nehmen die Leser, sind sie erst emotional verbunden, auch Ähnlichkeiten zwischen sich und dem Charakter oder Erzähler wahr oder machen sich eher auf die Suche danach, was zu einer positiveren Einstellung dieser Figur gegenüber führt. Die Psychologie nennt diesen Prozess Ähnlichkeitswahrnehmung. Und welcher Leser könnte einem Roman widerstehen, in dem es zumindest um jemanden geht, der ihm ähnelt?
Auch unter diesem Aspekt ist das Schaffen von möglichst großer Nähe zwischen Leser und Charakteren sinnvoll.
Zur Identifikation gehört außerdem, wie sympathischder Charakter den Lesern ist. Mit einer Romanfigur, die ihnen zwar ähnelt und der sie vertrauen, die sie aber dennoch nicht mögen, wollen sie sich nicht identifizieren – und keine Nähe herstellen.
Achtung!
Versuchen Sie nicht mit der Brechstange, den Lesern die Nähe zu einer Figur aufzuzwingen, deren Nähe sie nicht wollen.Das kann Ihren ganzen Roman beschädigen. Achten Sie darauf gerade bei extremen oder negativen Charakteren.
Ob Sie Ihren Erzähler letztlich nahe oder distanziert erzählen lassen, hängt– wie seine Sichtbarkeit und Objektivität – von seiner Persönlichkeit ab. Handelt es sich um einen personalen Erzähler, also eine Figur Ihres Ensembles, sollten die Wesensmerkmale des POV-Charakters zum Grad von Nähe und Distanz passen. Erzählen Sie auktorial, sollten Sie einen Erzähler schaffen, der, seinem Charakter entsprechend, nahe oder distanziert erzählt. Oder, der umgekehrte Weg: Sie erschaffen den Erzähler anhand des Grads an Nähe, den Ihr Roman zwischen Story, Figuren und Leser erreichen soll.
Stellen Sie sich Ihren Erzähler eher als peniblen Buchhalter vor, der jedes Wort notiert, ohne es zu werten? Oder ist Ihr Erzähler gefühlsbestimmt, zartbesaitet, aufbrausend, ein Schlawiner oder Manipulator? Achten Sie darauf, dass die Persönlichkeit Ihres Erzählers und die Art, wie er erzählt, zueinander passen, denn nur dann arbeiten sie nicht gegeneinander, sondern miteinander für einen starken Roman.
• Sie wollen die Leser möglichst tief in die Geschichte hineinziehen und dafür sorgen, dass sie sich mit dem Protagonisten identifizieren: Hier schlägt Emotion die Information.
• Eine größere Distanz kann dagegen für mehr Objektivität und einen besseren Überblick über das Geschehen sorgen, etwa wenn es darum geht, die Taten verschiedener Charaktere neutral zu beurteilen: Hier schlägt Information die Emotion.
Keine der beiden Erzählweisen ist der anderen überlegen, keine ist grundsätzlich populärer bei allen Lesern. Die nahe Erzählweise ist in den letzten Jahrzehnten jedoch gängiger geworden, mehr und mehr Leser sehnen sich nach Immersion in Geschichten und Figuren. Erinnern Sie sich an das oben zur zunehmend virtuellen Welt Gesagte.
Bestseller gibt es in beiden Lagern. Die Entscheidung, wie nahe Sie die Leser an Ihre Charaktere heranlassen wollen, ist allein Ihre. Im Folgenden sehen wir uns Gründe für beide und verschiedene Möglichkeiten an, wie Sie die jeweils gewählte Distanz literarisch optimal umsetzen.
Ein Aber vorweg
Viele Autoren entscheiden sich nicht bewusst für ein bestimmtes Maß an Nähe oder Distanz. Häufig erzählen sie distanzierter, als sie es für ihren Roman möchten oder als ihre Leser sich das wünschen. Durch dieses unbedachte Vorgehen entstehen Perspektivfehler. Wenn sich zudem die Distanz dauernd und ungeplant ändert, geraten die Story und insbesondere die Emotionen der Leser aus dem Fokus. Die Möglichkeiten, die die Perspektive bietet, reizen diese Autoren bei Weitem nicht aus. Am Ende erschweren sie ihren Lesern die Immersion in die Geschichte oder die Identifikation mit den Charakteren.[Fußnote 16]
Nähe und Distanz als Pole eines Kontinuums zu betrachten, erleichtert Ihnen die praktische Gestaltung Ihres Romans. Je nach den Erfordernissen der Story, des Themas, der Charaktere, der Ereignisse oder der Situation passen Sie die Distanz an, ohne die Perspektive zu wechseln. Beispielsweise intensivieren Sie eine emotionale Szene, indem Sie die Leser näher an Ihren Protagonisten und POV-Charakter heranholen.
Allerdings besteht die Gefahr, dass Sie zu oft, zu unmotiviert oder zu extrem auf der Nähe-Distanz-Skala hin und her rutschen. Dadurch fallen Sie aus der Perspektive oder verwirren Ihre Leser.
Unter solchen Distanzänderungen leidet insbesondere das sehr nahe Erzählen.Die intime Nähe zu einem Charakter funktioniert nur langfristig als immersives Instrument. Mit jeder Unterbrechung, auch einer Änderung der Distanz, verletzen Sie dieses empfindliche Verhältnis.
Eine Gefahr nahen Erzählensist eine übersteigerte Selbstfokussierung, Selbstbeobachtung und Selbstanalysedes Erzählers, gerade bei personalen Perspektiven. Ein Warnzeichen ist die häufige Verwendung psychologischer oder poetischer Begriffe. Auch das Beschreiben von Mikrohandlungen (blinzeln, an der Nase reiben und Ähnliches) deutet darauf hin.
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