Handlung allein – und auch Dialoge sind Handlung – reicht nicht aus. Gehen Sie tiefer. Verbinden Sie die Wahrnehmungen des Point-of-View-Charakters mit Emotionen, Erinnerungen, Anekdoten.Und tun Sie das, was Stefan Kiesbye hier vormacht:
»…
Die letzten hundert Meter schien die Limousine aufs Große Haus zuzugleiten. Das Gut lag auf dem Hügel, den der Riese Hüklüt zurückgelassen hatte, als er im Moor versunken und gestorben war. Obwohl wir wussten, dass es nur eine Legende war, machte es das Gutshaus noch beeindruckender. Das Gebäude war größer als unsere Schule, größer noch als unsere Kirche, und die Ziegel waren gelb gestrichen. Und ganz so, als ob wir hohe Herren wären, wurden wir zum Vordereingang hinaufgefahren. Der Fahrer stieg aus und öffnete uns die Türen.
…«
(Stefan Kiesbye, »Hemmersmoor«, Tropen 2011)
Mit Vergleichen wie »größer als unsere Schule, größer noch als unsere Kirche« nimmt der POV-Charakter seine aktuellen Wahrnehmungen und relativiert sie anhand von Wahrgenommenem aus seinen Erinnerungen, seiner Vergangenheit, seinem Leben. Eine indirekte Relativierung folgt im nächsten Satz: »als ob wir hohe Herren wären« zeigt, dass der POV-Charakter eben kein hoher Herr ist oder sich nicht als solcher sieht – und hilft mit, die Erzählperspektive einzigartig zu gestalten.
Genau darauf zielen Sie ab: die Erzählperspektive unverwechselbar zu machen – und damit den Erzähler, den POV-Charakter.
Wenn Sie genauer hinhören – besser gesagt: hin spüren –, erkennen Sie, dass die Vergleiche aus Kiesbyes Roman die Erzählperspektive in ihrem direkten Umfeld vertiefen. Der den Vergleichen folgende Nebensatz »die Ziegel waren gelb gestrichen« klingt dann nicht mehr nur wie eine schlichte Beobachtung. In ihr scheint das für den Erzähler Besondere daran auf: »gelbe Ziegel, nein, wie vornehm«.
Für Sie heißt das: Erhärten Sie die Erzählperspektive – über solche Vergleiche oder über ein anderes Instrument –, strahlt die Wirkung über dieses Instrument hinaus. Erzählökonomie in Reinform!
Sie finden das Beispiel banal? Genau das ist der Punkt. Eben weil die erwähnten Relationen nicht auffallen, sind sie so effektiv darin, die Erzählperspektive glaubhaft zu machen. Solche Vergleiche mit dem Leben des Charakters können Sie immer wieder einfließen lassen, ohne dass es die Leser stört oder sie gar aus dem Erzähltraum (fiktionalen Traum) reißt.
Wir kommen durch diese Vergleiche dem Kern des Wortes »Perspektive« ganz nah, denn gerade diese Vergleiche verdeutlichen den Standpunkt des Erzählers und setzen damit den Ausgangspunkt fest – für die Betrachtung der Welt Ihres Romans durch die Augen, durch alle Sinne, durch Verstand und Herz Ihres Erzählers.
Lassen Sie sich von Filmtechnik inspirieren
Um gezielt auf das Publikum zu wirken, legt ein Filmregisseur mit der Kameraperspektive sowohl den Standpunkt des Zuschauers als auch die Fläche des Filmsets fest. Bei der Auswahl einer Kameraperspektive spielen neben technischen auch dramaturgische Überlegungen mit. – Klingt nach etwas, das Sie inspirieren könnte.
Bei der Untersicht( Low-Angle-Shot ) werden Objekte aus einer niedrigen vertikalen Position gezeigt. Im Film wird sie beispielsweise eingesetzt, um beim Zuschauer Ehrfurcht oder Erregung gegenüber dem Charakter oder Objekt zu erzeugen.
Mit anderen Worten: Eine Figur wirkt durch diese Perspektive größer, mächtiger, dominanter. Auch weil sie aus dieser Perspektive das Gesichtsfeld des Erzählers ausfüllt.
Das können Sie verwenden, um etwa eine fiese Antagonistin einzuführen. Dazu beschreibt Ihr Erzähler die Person von unten. Vielleicht ist der Erzähler/Protagonist hingefallen und schaut zur Antagonistin hoch. Dabei beschreibt er Dinge, die er nur aus dieser Perspektive wahrnehmen kann, zum Beispiel ein Muttermal unter ihrem Kinn. Oder dieser Perspektive geschuldete Verzerrungen wie die unverhältnismäßige Größe des Kinns oder die nackten Äste vor dem Himmel, die hinter dem Kopf der Antagonistin wie eine dunkle Krone wirken.
Statt die Leser mit einer exakten Beschreibung zu verwirren – ein Roman ist kein Film und will auch keiner sein–, sollten Sie sich eher auf die Eindrücke und Emotionen konzentrieren, die diese Perspektive im Erzähler auslöst. Das wäre in diesem Fall ein Gefühl der Hilflosigkeit oder Unterlegenheit.
Eine Extremform der Untersicht ist die Froschperspektive, bei der die Vertikale noch dominanter wird.
Sie passt zu Extremsituationen, etwa wenn ein Charakter einem Riesen gegenübersteht, oder bei starken Veränderungen wie einem langen Sturz. Sprachlich eine vergleichbare Wirkung erzielen Sie mit eindringlichen Metaphern oder Vergleichen: Das Sonnenlicht, das von oben in den Brunnenschacht fällt, erscheint dem Gefallenen wie das verheißungsvolle Licht am Ende eines Tunnels.
Bei der Aufsicht(Obersicht oder High-Angle-Shot ) nimmt die Kamera eine erhöhte vertikale Perspektive ein und blickt auf das Objekt oder die Person hinab.
Verwenden Sie sie, um die unmittelbare Umgebung einer Figur zu zeigen oder um eine Szene mit mehreren Personen zu etablieren.
Beim auktorialen Erzählen ist sie perfekt für einen Überblick oder zur Erkennung von Mustern. Beim personalen Erzählen könnte der POV-Charakter am Rand einer Grube stehen, in die eine andere Figur hineingefallen ist. Was empfindet er dabei? Wie filtert diese Machtposition seine Sicht?
Selbst die im Film selten angewandte Schrägsichtkann Ihnen Impulse für die Erzählperspektive geben. Bei der dabei gekippten Kamera (Dutch Angle) steht das Bild auf der Leinwand schräg und verliert seine Balance. Der Regisseur wählt diese Kameraperspektive aus dramaturgischen Gründen, um Verwirrung, Andersartigkeit, Gewalt oder Instabilität einer Situation oder eines Charakters auszudrücken.
Wollen Sie eine Person mit den genannten Eigenschaften oder Problemen beschreiben, halten Sie die Kamera im Kopf Ihres Erzählers einfach mal schräg. Sie werden erstaunt sein, auf welche neuen und vielleicht sogar schrägen Ideen Sie dabei kommen.
Mit den beschriebenen Kameraeinstellungen sollten Sie sich jedoch nicht zufriedengeben. Die Erzählperspektive im Roman kann so viel mehr: Ihnen steht der komplette Wahrnehmungsapparat (nicht nur) von Menschen zur Verfügung und eine Innensicht in beliebiger Tiefe und Komplexität – und vor allem die Sprache, die Sie etwa zur Verdeutlichung oder Verstärkung der Perspektive verwenden.
Die Grenze ist erst da, wo Sie stehenbleiben. Gehen Sie ruhig noch einen Schritt weiter …
Achtung!
Achten Sie beim nächsten Mal, wenn Sie einen Film sehen, genauer auf die Perspektive. Sie werden merken, dass die Kamera sehr viele Perspektiven einnimmt und auch viel mit Nähe und Distanz spielt. Das eins zu eins auf einen Roman zu übertragen, würde für Chaos sorgen und die Leser komplett verwirren und aus der Geschichte reißen. Sprich: Gehen Sie ruhig weiter … aber gehen Sie behutsam vor.
Weiter geht’s mit der vielleicht wichtigsten Aufgabe der Erzählperspektive.
Nähe und Distanz
Wie nahe holen Sie die Leser heran?
In unseren so virtuellen Zeiten, in denen man mehr Stunden vor Bildschirmen und Buchseiten verbringt als vor einem menschlichen Gegenüber, ist die emotionale Bindung an einen oder die Identifikation mit einem fiktiven Charakter für viele Leser wichtiger als je zuvor.
Was zunächst paradox klingt, leuchtet ein: Früher hatten die Leser ihre Bindungen fast ausschließlich im realen Leben, sie mussten sie nicht im Fernseher, auf der Kinoleinwand, in einem Magazin oder auf dem Smartphone suchen. Heute werden wir zudem mit Eindrücken übersättigt – und eben auch mit fiktiven Charakteren aus Serien, Filmen, Games, Comics und Büchern. Selbst realen Menschen treten wir oft nur virtuell entgegen, ob am Telefon, in sozialen Medien oder in Videokonferenzen. Unsere Sehnsucht nach bedeutsamen und emotionsstarken Kontakten bleibt jedoch unbefriedigt, wird durch all das eher noch verstärkt. Kein Wunder also, dass für viele das Lesen eines Romans auch eine Suche nach emotionaler Bindung ist. Selbst wenn diese einseitig bleiben muss. Für Sie ist das ein großer Vorteil: Diese Leser wollen sich in Ihre Romanfiguren verlieben.
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