Denn eine effektive Ausgestaltung der passenden Perspektive verstärkt jeden anderen Aspekt Ihres Romans, sei es die Handlung, sei es die Spannung, seien es die Charaktere und ihre Persönlichkeiten.
Umgekehrt kann eine ineffektive Perspektive das alles verzerren, schwächen, unsichtbar machen. Das ist, als würden Sie Ihrem Publikum einen Film zeigen: Die Schauspieler verstehen ihr Handwerk, sie gehen in ihren Rollen auf, die Story ist knackig und anregend, der Schauplatz und seine Ausgestaltung sind ein Meisterwerk an Authentizität und Detailreichtum. Und dann leuchten Sie die Szene nicht oder falsch aus, das Mikrofon überträgt bloß den Wind und das, was die Menschen im Saal zu sehen bekommen, sind hastig verlegte Kabel, Standmarkierungen und ein halber UGG Boot Ihrer Protagonistin. Der ganze Aufwand, Ihre Zeit und genialen Einfälle, die wunderbare Sprache – alles für die Katz!
Eine klare Erzählperspektive ist für den Leser, als wäre er extrem kurzsichtig und altersweitsichtig dazu und Sie würden ihm die perfekt passende Gleitsichtbrilleauf die Nase setzen. Damit sieht er nicht nur deutlicher, was Sie ihm an Story und Figuren vorsetzen, vieles begreift oder fühlt er erst jetzt. An welchen Roman wird sich ein Leser wohl erinnern, welchen Roman weiterempfehlen? Den, den er vor seinem inneren Auge nur verschwommen gesehen hat? Oder den kristallklaren, mit Szenen wie in Bergluft?
Die Perspektive lediglich als Kameraauge oder Brille zu betrachten, greift jedoch zu kurz. Diese »Sicht der Dinge« meint neben dem über alle Sinne (einschließlich des sechsten) Wahrgenommenen auch Wissen und Emotionen des Erzählers oder POV-Charakters.Dem verliebten Helden zeigt die Perspektive nicht nur die Geliebte (sinnlich wahrnehmbar), sondern sie liefert die rosarote Brille (für die Emotionen) gleich mit. Wer eine Menge über dsungarische Zwerghamster weiß, sieht die kasachischen Steppen mit anderen Augen als ein Hamsterignorant.
Denken Sie auch an die vom Wahrgenommenen ausgelösten körperlichen Empfindungen, etwa die Schmetterlinge im Bauch, die leider manchmal, danke, Herbert G., zu Flugzeugen werden.
Damit sich all das auch auf die Leser überträgt, es ihnen verständlich wird und sie berührt, sie zum Weinen bringt und ihnen den Atem verschlägt oder sogar die Faust im Triumph recken lässt, damit Ihnen all das und mehr gelingt, genügt nicht allein Ihr sprachliches und schreibhandwerkliches Geschick. Die effektive Arbeit mit Perspektiven verlangt das Einnehmen des jeweiligen Standpunkts samt Filter, das Einlassen auf die Perspektiven, das Einfühlen in Charaktere, die Übernahme der Sicht Ihrer Erzähler, seien sie auktorial oder personal.
Merke
Um aus einer Perspektive überzeugend und mitreißend zu schreiben, müssen Sie diese selbst einnehmen.
Mit der Erzählperspektive steuern Sie den Fluss der Informationen: Welche Informationen übermitteln Sie an die Leser? Relevante! Doch selbst die unterscheiden sich von Perspektive zu Perspektive. Ein allwissender Erzähler hat andere Informationen zur Verfügung als ein Ich-Erzähler; eine siebzigjährige Ärztin als POV-Charakter präsentiert eine Information über die Risiken einer frühen Schwangerschaft anders als eine dreizehnjährige Hauptschülerin; eine ungeduldige Frau mit großem Freundeskreis verrät ein wichtiges Geheimnis eher als ein autistischer Mann ohne soziale Kontakte. In welchem POV, an welcher Stelle der Dramaturgie und auf welche Weise bringt Ihr Erzähler seine Informationen an?
Die Perspektive ist nicht fixiert oder für einen ganzen Roman verbindlich.Jeden Handlungsstrang können Sie aus einer eigenen Perspektive erzählen. In jeder Perspektive wiederum können Sie oder Ihre Erzähler sich mal näher, mal aus größerer Distanz Ihren Charakteren widmen.
Steht das nicht im Widerspruch zum oben beschworenen konsistenten Durcherzählen in einer Perspektive? Nein. Sie dürfen die Perspektive (aus gutem Grund) wechseln, sollten aber in der Perspektive selbst konsistent bleiben – weitgehend. Denn ein zielgerichteter, dynamischer Umgang mit der Distanz zwischen Leser und POV-Charakter oder Leser und Story ist je nach Perspektive ebenfalls möglich. Mehr dazu später.
Einer der wichtigsten Gründe für Ausgestaltung und Optimierung der Erzählperspektive sind die CharaktereIhres Romans. Was nutzt es den Lesern, wenn Sie einen wunderbaren Protagonisten erschaffen haben, sie ihm aber nicht nahe kommen, ihn nicht verstehen, sich nicht auf ihn einlassen, nicht emotional mit ihm verbinden können? Wenn sie keine Ahnung haben, wie er die Welt sieht oder wie seine Haltung zu den Kernthemen und -werten Ihrer Story ist? Erst mit der richtig gewählten und effektiv ausgearbeiteten Perspektive kommen Ihre Charaktere voll zur Geltung, nur dann werden die Leser sie ins Herz schließen, mit ihnen mitfiebern und bis aufs Komma genau wissen wollen, was mit ihnen geschieht – von der ersten bis zur letzten Seite.
Mehr noch: Erst wenn die Leser einen Bezug zu Ihren Charakteren aufbauen, erst wenn sie die Ereignisse auf die Weise gefiltert aufnehmen, die Sie und Ihr Erzähler mit der Perspektive vorgeben, werden sie Ihren Roman in seiner ganzen Schönheit, Spannung, Klugheit und Komplexität zu schätzen wissen.
Merke
Die Erzählperspektive fasst das Erleben der Romanfiguren in für die Leser verständliche Worte und Gefühle.
Die Möglichkeiten zur Auswahl von Perspektive und Erzählersind zahlreicher, als Sie denken.
Die Fliege an der Wand, die wir bei der dramatischen Perspektive kennenlernen werden, kann buchstäblich eine Fliege an der Wand sein. Wie in Rebecca Millers »Jacobs wundersame Wiederkehr«. Oder ein noch sehr viel ungewöhnlicherer Erzähler. Wie das ungeborene Kind in Ian McEwans »Nussschale«, die Schüssel in Tibor Fischers »Die Voyeurin« oder die Droge Crack-Kokain, von der Hauptfigur Darlene abhängig ist, in James Hannahams »Delicious Foods«. Orhan Pamuks Roman »Rot ist mein Name« dürfte im Hinblick auf ausgefallene Perspektiven kaum zu toppen sein. Einer der vielen Erzähler des Werks ist Satan, ein anderer eine Münze, noch ein anderer die Farbe Rot.
Hoffen wir, dass diese Autoren gute Gründe für die Wahl der Perspektivehatten. Jeder Trottel kann aus der Sicht einer buddhistischen Wanderheuschrecke erzählen. Aber es auf eine Weise zu tun, die der Roman braucht und die ihm gerecht wird und die obendrein unterhaltsam oder literarisch hochwertig ist, das kriegt nicht jeder hin.
Die Perspektive ist so etwas wie ein Überholvorgang auf einer engen, kurvigen Landstraße bei dichtem Nebel und drei Ihrer Kinder auf dem Rücksitz. Bestehen Zweifel, dass Sie es hinkriegen, lassen Sie es bleiben. Es steht zu viel auf dem Spiel. Mit den bewährten Perspektiven kommen Sie sicherer an Ihr Ziel.
Vorteile klarer und konsistenter Perspektiven
Die filternden Eigenschaftender Perspektive erweisen sich, wenn konsequent durchgehalten, als Vorteil: Vieles, was Sie sonst wieder und wieder erklären und betonen müssten, wird von einer klaren und konsistenten Erzählperspektive verstärkt. Der Erzähler erscheint konturiert und lebendig, unabhängig davon, ob er auktorial erzählt oder personal (und damit im Roman selbst als Figur vorkommt). Auch seine Erzählerstimme kristallisiert sich besser heraus. Umgekehrt stärken ein prägnanter Erzähler und eine eigenständige Stimme die Filterwirkung des POV.
Logisch, oder? Haben die Leser erst Ihren Erzähler als »Freund feiner Ironie« erkannt, werden sie die Ironie zwischen seinen Zeilen heraushören, ohne dass Sie sie jedes Mal in den Zeilen ausformulieren oder gar umständlich erklären müssten.
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