Was macht eine gelungene, eine die Leser begeisternde Erzählperspektive aus? Ein großartiger und auf das zu Berichtende maßgeschneiderter Erzähler[Fußnote 4] hat eine klare Vorstellung von Themen, Charakteren und Plot. Er oder sie wählt seine Perspektive(n)danach aus, Themen, Charakteren und Plot bestmöglich zu dienen und ihre Stärken herauszustreichen. Die Geschichte erzählt er auf konsistente und stets kontrollierte Weisemit einer packenden und eine klare Haltung verkörpernden Erzählstimme[Fußnote 5] .
Klingt schwierig? Keine Sorge. Was wir hier plakativ zusammengefasst sehen, ist der unerreichbare Idealfall. Dem Sie sich so weit annähern, wie Sie das hinkriegen – nach Lektüre dieses Ratgebers (noch) besser, versprochen. In jedem Fall gut genug, um einen mitreißenden Roman zu schreiben.
Übrigens …
Beim Beschäftigen mit der Erzählperspektive kommen Sie nicht umhin, Ihre Protagonisten und POV-Charaktere (abermals) näher unter die Lupe zu nehmen. Sehen Sie die Arbeit mit Perspektiven und Figuren als einen sich gegenseitig befruchtenden Prozess. Je mehr Sie sich mit der Erzählperspektive befassen, desto mehr Impulse erhalten Sie für die Ausformung und Optimierung Ihrer Charaktere – und umgekehrt.
Perspektive, Leute! Ich dachte lange Zeit, dass viele Autoren damit ein Problem hätten, weil sie nicht verstehen, warum man wann wie damit umgeht. Das Problem, fürchte ich, liegt tiefer.
Vielen ist nicht bewusst, dass es überhaupt ein Problem gibt, genauer gesagt: eine Vielzahl davon. Munter schreiben sie drauflos – »munter« kann, muss aber nicht »planlos« bedeuten – und kümmern sich nicht weiter um die Perspektive.
Warum sollten sie? Perspektive, Erzählperspektive, das klingt abstrakt, nach Schulgrammatik. Ohne die man blendend durchs Leben kommt, oder? Ich meine, was interessiert es den Bäckereifachverkäufer, die Bankenvorstandsvorsitzende oder den Escortherrn, was ein Konditionalsatz ist oder ein Akkusativobjekt? Brötchen, Staatspleiten und Sex verkauft man auch ohne dieses Wissen. Hat ein Autor eine Geschichte zu erzählen, kann eine Autorin wunderbare Charaktere zum Leben erwecken, muss es ihn oder sie doch einen trockenen Kehricht interessieren, wie das eigentlich so genau war mit der Perspektive.
Womit wir am Punkt sind: Sie als Autor (oder Ihr Erzähler, siehe oben) erzählen eine Geschichte besser und wirkungsvoller und gestalten Charaktere runder und lebendiger, wenn Sie das mit der Erzählperspektive hinbekommen.
Umgekehrt können reihenweise Perspektivfehler und die Wahl eines falschen POV eine Szene, einen Erzählstrang oder den kompletten Roman verwässern, schwächen und schlimmstenfalls zerstören. Etwa, wenn Sie an Schlüsselstellen dem Leser die relevante Sicht verwehren. Oder wenn Sie die Kontrolle über Ihre Charaktere verlieren und diese unglaubhaft oder inkonsistent agieren oder fühlen.
Keine Sorge, wir sind nicht in der Schule, nur in der des Lebens, und hier geht es nicht um richtig oder falsch, sondern um wirkungsvoll oder weniger wirkungsvoll. Es geht uns nicht darum, irgendeinen Roman irgendwie in die Tasten zu hacken, sondern darum, einen guten oder sogar den besten Roman zu schreiben, den Sie schreiben können. Schließlich haben Sie Ambitionen und eine Schreiber-Ehre.
Denn die Perspektive macht nicht nur den Roman – die Perspektive macht auch die Autorin und den Autor. Je präziser und prägnanter Sie die bestmögliche Perspektive einsetzen, desto näher kommen Sie dem Idealbild des Romans, den Sie schreiben und erzählen möchten, desto besser bringen Sie Ihre literarischen Fähigkeiten zur Geltung, nutzen mehr Ihres Potenzials aus und werden als Autorin oder Autor zu dem, der Sie sein können.
Perspektivpower
Die Erzählperspektive filtert den kompletten Roman vom ersten bis zum letzten Wort, sprich: Die Perspektive beeinflusst jedes Satzzeichen und jede Silbe, jede Leerzeile und jeden Absatz, jedes Kapitel und jede Szene – und auch alles, was Sie nicht schreiben.Einzig unberührt bleibt der Mückenschiss[Fußnote 6] auf Seite 313. Anders gesagt: Das schönste Ölgemälde der Welt ist wertlos, wenn die Leute es nicht oder nicht richtig oder nicht gut sehen können.[Fußnote 7]
Damit wir wissen, worüber wir reden, Beispiele der drei gängigsten Perspektiven:
Auktorialer Erzähler:
»…
Die Frau wurde am Morgen des 11. September 2001 am Strand gefunden, ziemlich genau zwischen dem Badhotel Skodsborg und dem Strandpark Bellevue.
Das war wenige Stunden, bevor die Welt für fast alle Menschen in den unterschiedlichsten Erdteilen nachhaltig verändert wurde. Diese eigenartige Koinzidenz hatte eine entscheidende Bedeutung für den seltsamen Verlauf, den dieser Fall nahm, sodass man eigentlich nur zu dem Schluss kommen kann, das Schicksal habe seine Freude daran gehabt, zwei so vollkommen unterschiedliche Geschehnisse auf ein und den gleichen Tag zu legen.
…«
(Erik Valeur, »Das siebte Kind«, Blanvalet 2014)
Personaler Erzähler, dritte Person:
»…
Shelby hatte nur noch wenige Kilometer bis zur Ranch ihres Onkels Walt vor sich, als sie auf dem Highway 36 zwischen Fortuna und Virgin River gezwungen wurde, am Straßenrand anzuhalten. Der Highway 36 war die Verbindung zwischen Fortuna und Red Bluff, eine Landstraße, die größtenteils nur zweispurig durch die Berge führte, und natürlich war dies der Streckenabschnitt mit dem meisten Verkehr. Sie kam hinter einem Truck zu stehen, der ihr vage bekannt vorkam, stellte den Wählhebel der Automatik ihres kirschroten Geländewagens auf »Parken« und stieg aus. Die Regenwolken hatten sich endlich verzogen und der strahlenden Sommersonne Platz gemacht, aber der Asphalt war noch nass und überall hatten sich Schlammpfützen gebildet. Als sie die Straße hinaufschaute, konnte sie am Ende einer langen Autoschlange einen Mann erkennen, der eine leuchtend orangefarbene Weste trug und ein Stoppschild hochhielt, womit er beide Fahrspuren blockierte. Die Abzweigung zu dem Anwesen ihres Onkels lag direkt hinter dem nächsten Berg.
…«
(Robyn Carr, »Verliebt in Virgin River«, MIRA 2009)
Personal, Ich-Erzähler:
»…
Ich saß in der hintersten Kirchenbank und sah zu, wie die einzige Frau, die ich je lieben würde, einen anderen Mann heiratete.
Natalie kam ganz in Weiß – wie auch sonst – und sah so hinreißend aus, dass ich es nie wieder vergessen würde. In ihrer Schönheit hatten sich schon immer Grazilität und eine ruhige Kraft vereint, aber da oben, auf der Empore vor dem Altar, sah sie so ätherisch aus, als wäre sie nicht von dieser Welt.
…«
(Harlan Coben, »Ich finde dich«, Goldmann 2014)
Haben Sie sich für eine Perspektive (für den gesamten Roman oder einen Erzählstrang) entschieden, müssen[Fußnote 8] Sie sie beibehalten. Jeder unmotivierte oder falsche Wechsel, jeder Perspektivfehler ist, als würden Sie beim Kaffeekochen den Filter zwischendrin immer mal wieder austauschen, gegen ein Teesieb, einen benutzten Staubsaugerbeutel, einen Seiher. Glauben Sie mir, das braun-klumpige Ergebnis in Ihrer Kanne wollen Sie nicht trinken.
Auch wenn Sie irgendwann merken, dass dieser POV nicht funktioniert, bleibt Ihnen nichts übrig, als den kompletten Text Wort für Wort zu überarbeiten. Oder ihn gleich neu zu schreiben.
Sehen Sie die Perspektive, trotz unseres dramatischen Intros oben, nicht als Bedrohung, sondern als Chance. Mit einem kristallklaren, konsistenten POV reizen Sie die Power und die Kunst, die in Ihrem Roman und Ihren Charakteren steckt, erst so richtig aus.
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