Übrigens: Dass sich die Todesschwadron den Namen Atlacatl gab, ist schon an sich eine Perversion und widerliche Beschmutzung, ja unerträgliche Erniedrigung eines heldenhaften Anführers der Pipil. Atlacatl stemmte sich vier Jahre lang, von 1524 bis 1528, den spanischen Eroberern erfolgreich entgegen, bis ihn der Conquistador Diego de Alvarado besiegte und ihn wie einen Verbrecher hängen ließ. Die Verbrecher von El Mozote, so ist zu befürchten, laufen möglicherweise noch immer frei herum…
Nun bin ich aber „meiner Zeit“ einige Jährchen vorausgeeilt. Soweit ich mich zurück erinnere, hatte 1965/66 die Staatsmacht das Land fest im Griff. Die Pier, das ganze Hafengelände wurden von Soldaten kontrolliert. Unter „Staatsmacht“ waren in El Salvador bislang nicht so sehr die meist nur vorgeschobenen Politiker oder einer der Putsch-Generäle zu verstehen, sondern der ominöse Klan der 14 Familien. Marcel Niedergang schrieb in seinem 1963 erschienenen Buch „20 mal Lateinamerika“ darüber.
Zitat: Die Namen dieser insgesamt vierzehn Männer sind an den Türen der Bürogebäude, an den Pforten der Handelsgesellschaften, der Banken und der Versicherungsfirmen von San Salvador zu lesen. Sie spielen alle gerne Golf, sie veranstalten Empfänge am Rande ihrer Schwimmbecken, sie sind Mitglieder von sehr geschlossenen Clubs. Sie besitzen riesige Kaffeefincas in der Provinz Libertad und Baumwollfelder bei Sansonate. Diese vierzehn Familienoberhäupter beherrschen das wirtschaftliche und politische Leben von El Salvador. Man findet sie alle – sie selbst, ihre Schwiegersöhne, ihre Neffen, ihre Vettern – an der Spitze aller großen Geschäfte und vor allem im Kaffeegeschäft, das den größten Reichtum von El Salvador bedeutet. Sie haben ihre Hand auf der Baumwolle, dem Kakao, dem Zucker, dem Palmöl, auf den Phosphaten und dem Vieh. Sie herrschen über die Zementfabriken, die Verkehrsmittel, den Verkauf von Coca Cola, Bier, Mineralwasser und amerikanischen Autos. Ohne direkt einzugreifen, haben sie alle Regierungen, die nach der Unabhängigkeitserklärung aufeinander folgten, aufgestellt oder abgesetzt. Die Lektüre der Gesellschaftsspalten in den Zeitungen von San Salvador gibt Aufschluss über alle politischen Intrigen eines Landes, das fast größer ist als Belgien. Die Duenos, die Regalado, die Hill, Mesa, Ayau, Sola, die Sol Milet, Guirola, Alvarez, Melendez, Menendez, Castro und Deininger: Diese weiße Oligarchie herrscht über eineinhalb Millionen Mischlinge.
Tja, und ich, ich hatte natürlich nichts Besseres zu tun, als den Reichtum dieser 14er-Bande indirekt zu mehren, indem ich ihre Produkte – Bier und Cola, Rum und Sex – bedenkenlos konsumierte. Die Straße weg vom Hafengelände führte direkt in den Puff. Dieser war eigentlich so etwas wie ein Dorf, ein Straßendorf, in dem sich Kneipe an Kneipe reihte. Wohin man sich auch wandte, von rechts und links lockte aus dunklen Türschlünden das eindringliche Wispern der Sirenen. So ist es halt auch nicht weiter verwunderlich, dass wohl keiner von uns Banausen je bis an das andere Ende der Dorfstraße gelangte. Was man, nachträglich gesehen, sogar als einen Glücksfall betrachten kann, denn, so geht die Mär, das Ende war eine Sackgasse – der Gottesacker! Gottesacker? Na, wohl eher ein Schindanger, der unheilige Friedhof für so frevelhafte Geschöpfe wie Seeleute und Nutten, die es da in ungeweihter Erde fortan in alle Ewigkeit mit dem Teufel treiben mochten…
La Union ist so und so ein heißes Pflaster; die Liegezeiten zogen sich hin, obwohl rund um die Uhr Betrieb war. Das lag an der zögerlichen Anlieferung der Kaffeesäcke, die per Bahn nur schubweise herangekarrt wurden. Tagsüber, wenn wir nicht gerade in den Luken zu tun hatten, war es ja noch auszuhalten. Meistens bearbeiteten wir auf übergehängten Stellagen oder vom Arbeitsfloß aus die Seeseite des Schiffes. So waren wir Decksbauern wenigstens tagsüber an der „frischen“ Luft. Aber nachts war es in den vermieften, nur unzureichend belüfteten Logis’ kaum auszuhalten. Weiß Gott ein triftiger Grund, die Nächte anderswo zu verbringen…
So setzte dann auch allabendlich ein Exodus in Richtung Kneipen ein, nur noch der Nacht- und die Lukenwächter – und die Offiziere, die sich gegenseitig auf ihre Moralfestigkeit beäugten, hatten an Bord zu bleiben. Die Entfernung zu unserem Nachtasyl war nicht der Rede wert, vielleicht bei noch guter Gangart 20 Minuten, der Rückweg aber konnte sich auch schon einmal hinziehen. So wie im Hafen, lief auch der Amüsierbetrieb rund um die Uhr, denn da gab es ja auch noch Schiffsbesatzungen anderer Nationen, die es mit der Arbeitsmoral nicht ganz so genau nahmen wie die diensteifrigen Deutschen. Nun, auch da gab es Ausnahmen, siehe Hans Ballermann. Aber im Allgemeinen war der deutsche Seemann jener Tage schon noch so getrimmt, dass er Dienst und Schnaps auseinander halten konnte.
Der gute Hans, der sich ja bekanntlich von solch altdeutschen Parolen nicht beeindrucken ließ und für den die Zustände im Puff von La Union sicher ideal gewesen wären, war da ja leider bereits verschütt gegangen. Leider, weil ich nun niemanden mehr hatte, dem ich meine fragwürdige Fürsorge angedeihen lassen konnte. Dafür aber fand ich in Paul, der eigentlich Georg heißt und als Motorenwärter auf der ILLSTEIN gemustert war, einen kongenialen Partner. Müßig zu sagen, dass wir uns nicht etwa an Bord, sondern in den Kneipen vor Ort kennen und schätzen lernten. Üblicherweise gab es an Bord immer schon diese spezifische Rivalität zwischen Deck und Maschine, die aus einem grundsätzlich unterschiedlichen Verständnis für Schiff und See resultiert. In der Praxis sah das dann so aus, dass, zumindest in der Mannschaftsmesse, die Decksbauern als auch die Maschinesen an getrennten Tischen ihr gemeinsames Mahl zu sich nahmen. Während unsereins trotz reichlichen Frischluftaufenthalts häufig nach „Labsalbe“ – Farbe und Verdünnungsmittel – roch, hatten die Klamotten der Motorenwärter, Schmierer und Reiniger naturgemäß immer diesen penetranten Gasölgeruch an sich. Zu diesen Äußerlichkeiten kam dann noch stets der Grad der Wertstellung: Was oder wer denn nun für das Schiff die wichtigere Funktion darstelle…
Für Paul und mich war das keine Frage. Lag es doch auf der Hand, dass ein jeder auf seinem Posten wichtig war, schon allein für das Gemeinwohl. Kleinliche Auseinandersetzungen waren nicht unser Bier, im Gegenteil, wir ließen, koste es was wolle, die Puppen tanzen. Das galt ganz besonders für La Union, denn hier gab es reichlich davon. Das Angebot an bildhübschen, willigen, bisweilen aufdringlichen jungen Frauen war einfach sagenhaft. Das führte nicht selten dazu, dass sich rassige Schönheiten wegen eines ungetreuen Freiers wortwörtlich in die Haare gerieten. Aber auch als „Freier“ lebte man nicht ganz ungefährlich, wenn man gewisse ungeschriebene Gesetze nicht einhielt. So mancher knickrige Krümelkacker oder treulose Casanova war, eh er sich’s versah, mittels einer Glasscherbe oder einer Rasierklinge für sein ganzes Leben gezeichnet. Zwar griffen in solchen „Notfällen“ die „Kellner“ schnell ein und setzten die meist angetrunkenen Chicas irgendwie fest, wenn sie sie nicht gleich einer Polizei-Patrouille übergaben. Und die fackelte bei Gegenwehr nicht lange. Auch so mancher Seemann fand unter solchen Umständen einen unrühmlichen „Seemannstod“ und landete auf besagtem Gottesacker…
Auch Paul und ich lebten vielleicht nicht ganz ungefährlich, denn wir waren bald als „Mariposas“, als Schmetterlinge, abgestempelt. Hatte man erst einmal diesen Ruf, war aber sonst großzügig, ließ es sich damit leben. Schließlich machte auch in diesem Milieu der Ton die Musik. Paul allerdings war wohl einmal sehr knapp am Limit. Er hatte sich vorgenommen, vielleicht aufgrund meiner Sticheleien, Rosaria zu zähmen. Rosaria hätte besser Randalia oder gar La Tigra geheißen. Sie war klein, aber geschmeidig wie ein Jaguar – und leider ebenso kratzbürstig. Sie soff wie ein Loch. Die meisten, die da meinten, sie mit genügend Drinks gefügig gemacht zu haben, scheiterten kläglich. Diejenigen, die es dennoch bis in ihr Bett geschafft hatten, verliehen ihr den Nimbus einer unberechenbaren Wildkatze. Paul war nun einer jener Haudegen, die sich schier vor nichts fürchteten – auch nicht vor Rosaria. Den Trinktest, bei dem ich ihn nach Kräften unterstützte, bestand er. Nach ungezählten Cuba Libre und Gin con Gin glitt sie plötzlich wie eine Schlange vom Barhocker, griff sich Paul und verschwand mit ihm in ihre Kemenate. Das ging ganz schnell, die Kammern der Mädchen lagen direkt im kreisrunden Hinterhof der Bar.
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