Mit so einer ethnischen Besonderheit konnte man vielleicht sogar ein bisschen angeben. Ein solcher Umstand war doch ein Privileg. Auf jeden Fall war der Besuch einer Tante mit ihrem Enkelsohn aus Hamburg ein Ereignis. Passend zum Besuch aus der Großstadt gab es zur Krönung des Ereignisses zufälligerweise das Sommerfest meines Kindergartens. Verwöhnt wurden wir obendrein mit einem wolkenlosen Himmel und Sonnenschein. Es wurde richtig warm. Mein Opa sprach gar von Kaiserwetter.
Die Überraschung im Kindergarten war perfekt. So etwas Exotisches hatte man noch nicht gesehen. Menschen anderer Hautfarbe, das kannte man nur aus Bilderbüchern, dem Lied von den zehn kleinen Negerlein und den Fernsehnachrichten. So hautnah, das war etwas Besonderes. Neid lag in der Luft. Deswegen war der offizielle Empfang neugierig distanziert. Die Meinung der anderen Kinder, dass Neger in den Busch gehörten, mochte ich nicht teilen. Schließlich wäre ich gerne mal in den Busch gefahren, wo schließlich auch Tarzan lebte.
Also versuchte ich ihre Sprüche zu übertönen mit einem: „So toll ist das gar nicht immer nur mit euch zu spielen – immer mit den gleichen Pissgesichtern.“
Sauer war ich ihnen nicht deswegen. Es gehörte doch zum Ritual sich gegenseitig runter zu machen. Die waren doch nur neidisch. Für mich blieb das ein toller Tag mit einem tollen neuen Kumpel, denn auch für mich war es das erste Mal. Das genoss ich in vollen Zügen. Und Montag würde ich dann auch wieder mit den anderen Pissgesichtern spielen.
Wenn man genau überlegte, dann war an diesem Tag nicht wirklich Außergewöhnliches passiert. Eigentlich war es ein normaler Besuchstag mit Verwandten. Neu war nur, dass Robert uns mit seinen Eltern und Großeltern zum ersten Mal besuchte. Alles andere war genauso wie immer. Das Spiel mit einem Schwarzen ist eben auch nur das Gleiche in Grün.
Herr Lühn und die alten Männer
Wenn ich gegen Mittag aus dem Kindergarten kam, traf ich oft den Postboten. Schon von weitem konnte ich erkennen, wenn Herr Lühn das Postwägelchen schob. Er trug seinen linken Arm immer so geknickt, als hätte er gerade den Unterarm gebrochen. Tatsächlich trug er aber keinen Gips. Auch ohne Gips hielt er den Unterarm immer angewinkelt. Das ging bei ihm nicht anders. Ganz im Gegensatz zu einem eingegipsten Arm, ging die Behinderung auch nicht wieder weg. Die Armhaltung war die Folge einer Kriegsverletzung.
Viele Leute hatten damals körperliche Behinderungen. Dem Kioskbesitzer, bei dem ich mein Eis kaufte, fehlte sogar ein ganzes Bein. Meinem Opa fehlte nur der kleine Finger, aber das war ein anderer Krieg.
„Jede Generation hat ihren Krieg“, meinte dazu eine Tante zu mir: „Das wirst du noch erleben.“
Wenn Herr Lühn nicht seine Post verteilte, sah ich ihn meistens in seinem Garten gegenüber von unserem Haus. Dann war er der freundlichste alte Mann, den ich kannte. Er meckerte selten. Meist hatte er nur Vorschläge, wie wir besser spielen sollten. Wenn er sich mal tatsächlich ärgerte, dann wussten wir, dass wir es wirklich zu arg getrieben hatten. Selbst wenn er sauer war, drohte er nie. Auch dann hatte er für uns einen Plan B, der uns wirklich eine Alternative zu sein schien. Wieso war er so anders als die anderen alten Männer? Vielleicht lag das auch daran, dass er der jüngste von den Alten war.
Freundlichkeit unter alten Männern schien mir eine Ausnahme zu sein. Herr Lühn war auch der einzige, der nie vom Krieg sprach. Wurde er angesprochen, was selten genug passierte, dann sprach er schlecht vom Krieg. Die anderen alten Männer sprachen öfter über ihren Krieg. Herr Lühn war auch der einzige von den alten Leuten, der nicht immer mal zwischendurch sagte. Viele alte Leute taten das. Sie waren enttäuscht über die aktuelle Situation Deutschlands. Laute Kritik übten aber nur die Männer. Dann hörte ich, dass die Welt gegen Deutschland sei. Dass man Deutschland betrogen habe. Die Rede war von einem zweiten Versailles. Sie müssten ausbaden als brave und anständige Bürger, was andere zu verantworten hätten. Mit brav und anständig meinten sie, dass sie immer nur ihre Pflicht getan und dafür so manches Joch auf sich genommen hatten.
„Nicht nur die Juden haben unter den Umständen gelitten“, sagte jemand auf dem Schützenfest an der Schwedenschanze. Ein einhelliges: „Das ist wohl wahr“, war die Antwort der Gruppe im Festzelt.
Rechtfertigungen waren das Gesprächsmotiv einer kleineren Gruppe der Veteranen. Die große Mehrheit wollte sich am liebsten gar nicht mehr erinnern.
„Wieso erinnern und immer wieder in alten Wunden stochern“, kritisierte einer von ihnen die Rechtfertiger.
Die meist schweigende Mehrheit fühlte sich von Erinnerungen aufgewühlt. Wieso nicht abhaken, was man sowieso nicht rückgängig machen konnte? Warum nicht endlich Ruhe und Frieden im Vergessen finden, gerade weil das alles mit dem Krieg so schwer und unangenehm war. Das Leben musste doch weitergehen.
Diese unzufriedenen alten Männer haben uns Kindern das Spielen auf der Straße immer wieder vermiest. Angeblich waren wir ständig zu laut. Wir würden die Straße kaputtmachen, wenn wir nach einem Regen in den Pfützen spielten. Mein Gott, die Straße war eine mit Schlaglöchern übersäte Schotterpiste.
Samstags konnte es schon mal besonders kritisch werden. Dann hatten sie fürs Wochenende vor ihren Hecken geharkt. Weh dem, der dann erwischt wurde, wie er die sauber gezogenen Rillen mit Fußspuren zerstörte, weil er versuchte einen verschlagenen Federball aus einem Vorgarten zu angeln. Natürlich verwischten wir unsere Spuren und zogen mit den Fingernägeln die unterbrochenen Rillen der Harkenspur nach.
Kritisch war auch Fußball. Wir mussten gut überlegen, wo wir kickten. Nicht immer bekamen wir unseren Ball zurück, wenn er in bestimmte Gärten flog.
Als mein Drachen in den falschen Garten abstürzte, fragte ich deswegen nicht extra, ob ich ihn mir wiederholen darf. Ohne zu zögern schlich ich mich in den Garten. Leider wurde ich von der Gartenlaube aus entdeckt. Mit dem Drachen in der Hand rannte ich so schnell ich kann, denn der Gartenbesitzer konnte von der Laube aus auf kurzer Distanz meinen Fluchtweg kreuzen. Ich verlor das ungleiche Rennen und wurde am Kragen gepackt.
Als er auf mich eindreschen wollte, rief plötzlich vom Grundstück nebenan der große Nachbarsohn, der gerade von seiner Lehrstelle nach Hause kam: „Lassen sie das Kind in Ruh. Schlagen sie gefälligst ihre eigenen Kinder.“
In der nächsten Sekunde war ich los und sprang über die Hecke. Der alte Mann brüllte zurück: „Werden sie erst mal älter und kümmern sich um ihre Angelegenheiten“.
So war ich davongekommen, aber statt meiner musste jetzt mein Drachen büßen. Für meine Kumpels und mich gut sichtbar zerbrach er den Drachen, warf ihn über die Hecke und sagte abschätzig grinsend: „Lasst euch das eine Lehre sein.“
Ich war mir sofort sicher. Das war keine pädagogische Maßnahme. Dazu stand ihm die Genugtuung zu sehr ins Gesicht geschrieben.
Dies war schon ein heftigeres Intermezzo. Meist kam man mit einfachem weg. Das war genauso wie bei Wilhelm Buschs . Immer waren es quengelnde alte Männer, nie junge Männer, nie Frauen, die uns traktierten.
Als ich an einer nahegelegenen Hauptstraße mit meinem Roller den Bürgersteig entlangfuhr, wurde ich von einem dieser alten Männer ohne Ansprache oder sonstiger Vorwarnung einfach mit dem Ellenbogen zur Seite gedrängt. Der Stoß kam so unerwartet und mit massiver Wucht, dass ich stürzte.
„Hoffentlich hat es wehgetan. Sonst lernt ihr Bengel ja nicht“, war sein Kommentar ohne weitere Erklärung.
Herr Thole, einer von den wenigen Netten, deswegen sei er hier lobend erwähnt, der ein Stück weiter wohnte, tröstete mich in seiner Schusterwerkstatt, wo es immer so berauschend nach Kleber roch. Er erklärte, dass der Bürgersteig mit einem weißen Strich zweigeteilt war. Nur die eine Hälfte ist ein Radweg. Aber auch er habe gedacht, dass ein Roller auf beiden Seiten fahren darf.
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