Wieso lernen die Schulen eure heuchlerische Vernunft, nach der sich alles nur vordergründig richtet? Schule soll doch auf das Leben vorbereiten. Wie kann sie das leisten, wenn sie den Kit erwachsener Beziehungen ausklammert. Sollte neben dem Intelligenzquotienten (IQ) nicht vielleicht auch der EQ durch Schulung emotionaler Kompetenzen gefördert werden, für die Entwicklung der emotionalen Autonomie der Schüler? Spätestens in der Adoleszenz?
Dieses Buch ist ein Plädoyer dafür, dass Ehrlichkeit und Chancengleichheit entstehen, weil Schüler empathisch kompetent werden. Es gilt sich der Ambivalenz von Rationalität und Intuitionen zu stellen. Dazu müssen zuerst die Erwachsenen verstehen lernen, was sie tun. Häufig genug tun sie das nicht. Sie glauben an ihre Rationalität. Tatsächlich wissen sie längst nicht immer, wie ihre Gedanken und Eindrücke im Bewusstsein zustande kommen. Die Prozesse, die im Verborgenen ablaufen, spielen eine wichtige Rolle. Sie beeinflussen uns stärker als wir glauben. Erst ihr Zusammenspiel mit unserer logischen Vernunft erklärt unsere Entscheidungen.
Als ich 1969 eingeschult wurde, begannen zwei Wissenschaftler, Amos Tversky und Daniel Kahneman (D. Kahneman: „Schnelles Denken, langsames Denken”, Siedler Verlag (2012)) mit Forschungen auf diesem Gebiet. Ihnen fiel auf, dass Probanden bei Vorhersagen nicht automatisch auf ihr Wissen zurückgriffen. Die quasi statistisch relevanten Erfahrungen der Versuchspersonen, spielten bei ihren Entscheidungen in den wissenschaftlichen Experimenten keine Rolle. Sie verließen sich auf ihr Gefühl. Manchmal ignorierten die Versuchspersonen geradezu jede vernünftige Überlegung. Dann verließen sie sich ausschließlich auf ihr Bauchgefühl.
Heute sind Heuristiken, wie solche Bauchgefühle mit einem Fachwort bezeichnet werden, als Entscheidungsgrundlage für unser Verhalten untersucht und anerkannt. Wir wissen, dass evolutionäre Erfahrungen Teil unserer genetischen Erinnerung geworden sind. Neben der Logik sind sie als Bauchgefühle, die wir oft nicht näher erklären können, in uns als Entscheidungsmatrix lebendig. Meist ist es schwierig, sich ihrem Einfluss zu entziehen. Sie dominieren viele unserer Entscheidungen.
Daniel Kahneman erhielt für seine Erkenntnisse 2002 den Nobelpreis. Mit den Ergebnissen seiner Arbeit, die er mit Amos Tversky begonnen hatte, kann ich heute das scheinbar unlogische oder nur begrenzt logische Verhalten Erwachsener besser verstehen.
Das Wissen dieser bahnbrechenden Psychologen sollte unbedingt Einzug finden in den Schulbetrieb. Intuitionen, Bauchgefühle und das ganze mentale Erbe unserer Evolutionsgeschichte bestimmen unsere Entwicklung von Anfang an. Sie leiten unsere sozialen Kompetenzen. Dieses Wissen lernen nicht alle Kinder automatisch und intuitiv. Auch Empathie ist lernbar. Man kann sie üben. Die Schule sollte das Forum dafür sein. Was nützt Schule, wenn sie nicht das Wichtigste lehrt.
Natürlich ist dieses Buch auch ein Versuch zu erklären, warum ich heute so bin wie ich bin. Ich habe festgestellt, dass ich mich schon lange nicht mehr sehr verändere. Was sich Neues tut, ist meist eine Variation von Bekanntem. Fast alles in meiner gegenwärtigen Existenz hat als Fundament meine Kindheit. Sie ist so prägend, dass ich sie im Neocortex meines Gehirns als Matrix abgelegt habe. Ich kann sie nicht mehr entfernen. Meine Kindheit ist mir im positiven Sinne mein Trauma. Ich kann sie nur noch ändern und ergänzen. Löschen ist unmöglich. Zum Glück hatte ich eine tolle Kindheit, sonst hätte ich Probleme ein Leben lang. Das Grundvertrauen, dass ich bei meinem Auftritt in diese Welt mitgebracht habe, ist nicht nachhaltig erschüttert worden. Als erste Störungen auftraten und auch mal massiv wurden, war ich schon so stark, dass sie mir nichts mehr anhaben konnten. Ich war sogar zum Widerstand bereit. So tat ich auch, was längst schon Pippi Langstrumpf (Astrid Lindgren: „Pippi Langstrumpf”, Verlag Friedrich Oetinger) vorlebte.
. Ich machte mir die Welt, wie sie mir gefiel. Nur wenn ich für meine Interessen kämpfte, musste ich nicht das Leben der anderen leben.
Enttäuscht war ich immer wieder von den Erwachsenen, nicht aber von den anderen Kindern, denn die waren genauso unwissend in dieses Leben geworfen worden. Ihnen konnte ich verzeihen, wenn sie mich traktierten. Aber die Erwachsenen wussten doch alles. Sie hatten doch alle Voraussetzungen für ein perfektes Leben. Von ihnen wollte ich lernen. Ihnen glaubte ich alles.
Es dauerte viel zu lange bis ich glauben konnte, dass sie Fehler machten. Bis dahin versuchte ich, ihre Fehler zu rechtfertigen und mir Versagen zuzuschreiben. Das ließ mich immer wieder letztlich vergebliche, neue Anläufe nehmen, ein besserer Mensch zu werden. Als ich meinen Intuitionen endlich sicherer war, weil ich auch Beweise fand, da legte ich mir einen ersten Grundsatz fest. Vertraue niemandem uneingeschränkt, nicht einmal dir selbst. Wer vertraut geht ein Risiko ein, denn Vertrauen kann missbraucht werden. Wer vertraut kann irren, denn selten wissen wir alles, was eine Entscheidung richtig macht. Also schimpfe ich nicht, wenn etwas schief läuft. Als Kind hatte ich gelernt, dass es wenig Sinn macht, sich über zerbrochenes Porzellan zu ärgern. Es passierte einfach viel zu oft, dass Scherben meinen Tatendrang begleiteten.
Auch heute noch stehe ich dann auf und versuche es eben besser zu machen. Und wenn ich kritisiere, dann habe ich auch heute einen Plan B. Der ist heute meist noch viel überzeugender als früher.
Ich weiß nicht, was der Auslöser war, dass ich gelernt habe, nicht alles als Gott gegeben hinzunehmen. Nicht wenige Erwachsene verlangten genau das von mir. Umso dankbarer bin ich, dass ich nachgefragt habe und gelernt habe, wenn notwendig auch NEIN zu sagen. Das NEIN ist mir das größte Pfand der Freiheit geworden. Nur wenn ich NEIN sage, bin ich bereit mit dem Ungewollten zu brechen. Nur wenn ich NEIN sage, kann ich JA sagen zu einem neuen Anfang.
Die Bundesgenossen meiner Gedanken waren fast alle Tod. Ihre Gedanken lebten weiter in ihren Werken und Büchern in der städtischen Leihbücherei. Bei Friedrich Schiller las ich dort, weil mein Deutschunterricht das eben nicht vorsah, was auch mich antrieb: Über den Wunsch nach Erleben und Verstehen durch Wahrnehmungstiefe. In seinem Lied von der Glocke spricht er mir aus der Seele:
Das ist’s ja, was den Menschen zieret,
Und dazu ward ihm der Verstand,
Dass er im Innern Herzen spüret,
Was er erschafft mit seiner Hand.
Ich habe dieses Buch angefangen, um von mir zuschreiben. Ich wollte erklären, was mich in meiner Kindheit bewegt und immer wieder irritiert hat, im Umgang mit Menschen, insbesondere aber mit Erwachsenen. Manche Irritationen haben sich aufgelöst in sofern, als ich heute weiß, dass Erwachsene nicht alles besser wissen. Sie haben damals einfach nur Fehler gemacht und ich habe es nicht glauben können.
Bei aller Kritik an den Erwachsenen, die meine Pubertät und Adoleszenz begleitet haben, bleibt es immer an der neuen Generation, aus den Widersprüchen mit der alten zu lernen, um auch die eigenen Widersprüche aufzudecken. Denn was nützt ein Buch, wenn es uns nicht gelingt es besser zu machen?
Lange habe ich gedacht, ich sei in meiner Klasse der einzige gewesen, der so viele Widersprüche erlebt hatte. Meine Mitschüler schienen meine Probleme nicht zu kennen. Sie interessierten sich für andere Dinge. Sie stellten andere Fragen.
Als ich diese Geschichte fast schon fertig aufgeschrieben hatte, gab ich alten Bekannten eine Leseprobe. Dabei stellte sich heraus, dass in anderen Klassen unserer Schule andere Kinder durchaus sehr ähnliche Erfahrungen gesammelt haben. Ich war dankbar für ihre Bestätigungen und Ergänzungen. So fühlte ich mich etwas weniger als Außenseiter. Ich mochte ihre Erlebnisse nicht weglassen. Zu gut fügten sie sich in meine Geschichte. Deswegen habe ich meine Geschichte um ihre Berichte ergänzt. So ist aus meiner Geschichte unsere Geschichte geworden, die Geschichte einer Generation. Sie verliert damit ihren autobiografischen Charakter, aber dafür machen zusätzliche Details sie noch umfassender und authentischer für ihre Zeit.
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