Hmm, wenn man den passenden Schlüssel hätte, könnte man von der Brücke direkt auf dieser schmalen Insel landen und hätte den Zugang zum Fließ. Aber der Typ gestern kam von links, also vom Treppenaufgang. Wenn der über die Wendeltreppe hochgekommen wäre, hätte ich das gehört und der hätte mich gesehen… Dann wäre es gar nicht zu dem Zusammenstoß gekommen. Vielleicht sollte ich Kanu-Walter nochmal befragen. Vielleicht weiß der, wer einen Schlüssel hat.
Der Hunger treibt Bruno an und er hat Lucie an die kurze Leine genommen. Zielstrebig landen sie nach ein paar Minuten bei der 'Mühle', um den Schock des Tages zu erleben: Montags Ruhetag!
Mist, das glaub ich jetzt nicht… Ruhetag, seit wann das denn? Sag bloß seit heute… Wir haben Anfang Oktober, stimmt überhaupt. Von Oktober bis Mitte März macht Harry montags Wellness, da hättest du mir ja mal einen Tipp geben können, Lucie… Pass auf, jetzt machen wir etwas, was wir noch nie gemacht haben, jedenfalls nicht wir beide.
Kurze Zeit später stehen sie an dem Imbiss, wo es Sonntagabend so verführerisch in Lucies Nase gekitzelt hat. Bruno bestellt zwei Frikadellen mit Senf, eine Cola und für Lucie ein Paar Wiener Würstchen.
"Lucie, das bleibt aber unter uns…"
Im Hausflur ist es angenehm kühl und Bruno lässt Lucie von der Leine, endlich. Sie ergreift sofort die Flucht und geht schon voraus, während Bruno noch einen Blick auf seinen Hausbriefkasten wirft. Normalerweise bekommt er montags selten Post aber diesmal scheint etwas Weißes durch das Sichtfenster. Er schließt das Fach auf und entnimmt einen Briefumschlag, der zwar seine Adresse aber keinen Absender trägt. So ohne Lesebrille macht es keinen Sinn, den Brief zu öffnen, also ab in die Jackentasche. Er kommt etwas außer Atem vor seiner Wohnungstür an, vor der Lucie schon einige Pirouetten gedreht hat.
"Ja, ich komme ja schon, bin schließlich schon etwas älter."
In der Wohnung stellt er Lucie als erstes den Napf mit frischem Wasser hin und hängt dann seine Jacke und das Hundegeschirr an die Garderobenhaken. Dann ein Blick in den Kühlschrank, genau noch eine Flasche Bier, die muss jetzt dran glauben, sofort. In dem Kramfach, wo normalerweise alles zu finden ist, fehlt ausgerechnet der Flaschenöffner. Also geht er mit der Flasche ins Wohnzimmer und nimmt aus seinem alten Eckschrank ein Bierglas und den Öffner. Der erste Schluck geht runter wie Öl. Obwohl, der Vergleich…mit Öl… und dann mit Kohlensäure und kalt, naja. Bruno hat es sich in seinem Sessel bequem gemacht und schaut auf sein Smartphone, zwei neue Nachrichten und eine Email. Hat er mal wieder nicht gemerkt. Die erste Nachricht ist von seiner Schwester, 'War heute bei Mutti, soll dich grüßen und fragen, wann du dich mal wieder sehen lässt. Ich glaube es geht ihr nicht gut, ruf mich mal an.' Die zweite Nachricht kommt von Harry, 'Schöne Grüße aus München, war gestern mit Tina im Englischen Garten, Kaiserwetter und zwei Maß Bier, wäre was für dich. Bis Mittwoch, grüß mir Lucie.'
Tina, Harrys hübsche Tochter und dann noch Kaiserwetter im Biergarten, hätte mir wirklich auch gut gepasst, aber für mich bleiben nur tote Frauen…
Bruno öffnet die Email und löscht sie gleich wieder. Irgendein Getränke-Onlinehandel, bei dem er vor Jahren mal eine relative seltene Whiskysorte als Geschenk für einen Freund gekauft hat, versorgt ihn regelmäßig mit äußerst wichtigen Newslettern, und obwohl er diese schon zigmal abbestellt hat, bekommt er sie immer wieder. Er trinkt den letzten Schluck Bier aus und steht auf, um das Glas in die Küche zu bringen.
Mensch, der Brief! Habe ich ja ganz vergessen. Ohne Absender, wo der wohl her ist?
Während Bruno zurück ins Wohnzimmer geht öffnet er den Umschlag und fischt ein weißes DIN A4 Blatt heraus. Der Text ist gedruckt, wohl das Produkt eines PC, nur die unleserliche Unterschrift ist mit einem blauen Kugelschreiber hingekritzelt worden.
Lieber Bruno,
hoffentlich erreicht dich der Brief überhaubt. Ich habe unzählige Tage damit verbracht, alle Adressen unserer Klasse aufzutreiben aber ob die immer alle aktuell sind, weiß man natürlich nicht. Ja, ich habe vor, ein Klassentreffen zu organisieren! Hammer oder? Stell dir vor, ein Wiedersehen der G10b von 1964. Als Termin habe ich mir den 7.10. um 20.00 Uhr überlegt, ist ein Freitag, da können alle am nächsten Morgen ausschlafen (Hahaha). Wir machen das bei mir, ich habe genug Platz. Für Essen und Trinken wird gesorgt. Also ziehr dich nicht und komm. Würde mich riesig freuen.
Zusagen an: Lutz Strehlow
Im Sandfeld 1
13467 Berlin (Hermsdorf)
L.S.-Immo@immmak.de
Bruno ist froh, dass er sitzt. In seinem Kopf rotieren wildeste Gedanken, Kettenkarussell, Walzerbahn, Autoskooter, alles auf einmal.
Ich glaube, ich verblöde. Das kann doch nicht wahr sein! Jahrzehnte nichts von Lutz Strehlow gehört, nicht mal an ihn gedacht. Der war völlig aus meinem Erinnerungsspeicher verschwunden, nicht mal mehr im Unterbewusstsein, alles gelöscht und jetzt…, jetzt rennt der mich um, dass ich mir fast die Knochen breche und am nächsten Tag lädt er mich zum Klassentreffen ein… und dann so kurzfristig. Ist das noch normal?
Immer wieder fliegen die Blicke über das beschriebene Blatt Papier.
Na, Rechtschreibung war ja noch nie deine Stärke. Aber eine eigene Email-Domäne…Immo…immmak… hört sich verstärkt nach Immobilienmakler an. Das würde auch zu dir passen, Lutz Strehlow.
Bruno wirft den Brief auf den Couchtisch und geht in die Küche. Ein weiterer Blick in den Kühlschrank zaubert auch kein zweites Bier herbei. Also schaltet er die Kaffeemaschine ein. Nach kurzem Erhitzen des Wassers legt er ein Kaffeepad in die Maschine und beobachtet andächtig, wie zwei Kaffeestrahlen unter lautem Getöse die Tasse füllen. Der erste Schluck ist zu heiß und er stellt die Tasse noch einmal ab.
Was mache ich denn jetzt? Warten bis Freitag? Andererseits hat er ja seine Adresse hinterlassen, da könnte ich ihm ja einen Besuch abstatten. Hermsdorf, Sandfeld, kenn ich gar nicht, kommt das Navi mal zum Einsatz. Aber wenn der jetzt was mit der toten Frau zu tun hat, dann hat der mich auch erkannt und das ganze ist eine Falle. Ich sollte einfach zur Polizei gehen und denen erklären, was mir passiert ist…, aber wie erkläre ich denen, dass ich nicht gleich gekommen bin? Und wenn der Strehlow gar nichts damit zu tun hat, würde ich ihn unnötig belasten…, wäre mir eigentlich schnurzpiepegal. Aber warte mal, heute ist doch Feiertag und gestern auch keine Post…, der Brief muss doch schon seit Sonnabend im Kasten gelegen haben! Jetzt blicke ich überhaupt nicht mehr durch. Ich werde in Anbetracht des Getränkenotstands nachher nochmal zur Tanke fahren, und morgen Vormittag statte ich dem Walter von der Kanugarage nochmal einen Besuch ab. Würde mich schon mal interessieren, wie das da mit dem Schlüssel ist…, und dann kann ich ja doch einmal in Hermsdorf vorbeischauen, wenigsten von weitem. Mein Auto kann er ja nicht kennen…
Berlin, Dienstag, 04.10.2011
Bruno schlurft schlaftrunken in die Küche. Lucie hebt nur kurz den Kopf und macht es sich gleich wieder in ihrer Kuschelecke gemütlich, nachdem sie erkennt, dass ihr Gastgeber noch im Pyjama steckt, gibt es für sie keinen Grund aufzustehen. Auf dem Küchentisch steht noch die Kaffeetasse von gestern Nachmittag, der Kaffee natürlich kalt. Bruno gießt frisches Wasser in die Maschine, schaltet sie ein und will ein neues Kaffeepad einlegen.
Toll Herr Hallstein, wann werden Sie es endlich mal begreifen, dass man nach dem Zubereiten des Kaffees das alte Pad aus der Maschine entfernt? Jedes Mal das gleiche…
Mit einiger Verzögerung kann er endlich den frischen Kaffee genießen, und der erhellt in der Tat seine Stimmung wie auf Knopfdruck. Den gestrigen Abend hat er zu Hause verbracht. Nachdem er mit Lucie noch eine Runde bis zur Tankstelle gelaufen war, anstatt zu fahren, stimmte auch die Versorgungslage im Hause Hallstein wieder. Für seine Verhältnisse ist er dann recht früh ins Bett gefallen und hatte eine erstaunlich ruhige Nacht. Keine Träume von Wasserleichen oder alten Klassenkameraden mit Blutspuren an den Händen, nee, ganz normal durchgeschlafen.
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