"Ich habe mal gelesen, dass Hunde kein Bewusstsein für ihre Größe haben. Vielleicht stimmt das ja und er hält sich für groß genug. Bei den Menschen findet man das doch auch. Besonders schlimm sollen ja kleine Männer sein."
Der Mann schaut Bruno mit hochgezogenen Augenbrauen an. Wahrscheinlich überlegt er fieberhaft, ob er in die von Bruno definierte Kategorie 'Kleine Männer' fällt oder nicht. Dann entspannt sich sein Gesicht. Offenbar stellt ihm sein Bewusstsein auch keine Information über seine wahre Größe zur Verfügung.
"Sie werden es nicht glauben, aber der geht große Hunde so aggressiv an, da muss ich immer aufpassen. Aber Ihre ist ja zum Glück ein Weib, da hängt Rowdy immer den Löwen raus."
Bruno weiß nicht so recht, was er darauf sagen soll. Schließlich ist Lucie auch nicht sein Hund. Aber eines hat er begriffen, über das Tier an seiner Seite kann er Türen öffnen, die ihm sonst verschlossen blieben. Nur Mut Bruno, versuch's einfach mal. Bruno fingert die Zeitungsseite aus der Jackentasche und erzählt dem Mann die gleiche Geschichte, die er Kanu-Walter aufgetischt hat, freier Schriftsteller und so.
"Sagen Sie mal, wenn Sie hier wohnen, wissen Sie bestimmt auch von der Frauenleiche. Wissen Sie zufällig auch, wer sie entdeckt hat?"
"Nicht zufällig, sondern ganz genau kenn ich den."
"Sagen Sie bloß, Sie sind das gewesen?"
"Naja, entdeckt kann man nicht gerade sagen. Ich war nach den Spätnachrichten nochmal raus, wegen Rowdy, das muss ich Ihnen ja nicht erklären. Und da hinten, zwischen Angelverein und dem Wassersportklub 03, kommt plötzlich so ein Kerl übern Zaun, wie ein Irrer. Rowdy hat sich, glaube ich, mächtig erschrocken, jedenfalls hat er gekläfft und gekläfft. Ich habe ihn gar nicht beruhigen können. Ich dachte zuerst, es könnte ein Einbrecher sein. Ich kenne die ja alle vom Verein, sind ja quasi meine Nachbarn. Und um die Uhrzeit ist das Gelände natürlich verlassen, kein Mensch mehr da. Ja und dann hat mich irgendwie die Neugier gepackt. Ich bin also mit Rowdy nochmal zurück zum Zaun und habe die Taschenlampe eingeschaltet. Schauen Sie mal, die hier am Schlüsselbund, habe ich immer dabei. Also weit scheint sie ja nicht, dazu ist sie zu klein, aber irgendetwas lag da direkt am Ufer. Wissen Sie, da haben die Kanuten so eine Art Rampe, wo sie ihre Boote zu Wasser lassen, ganz flach ist es da. Und da lag sie, also die Tote, aber das habe ich erst hinterher erfahren. Ich bin erst nach Hause und habe alles meiner Frau erzählt und die hat sofort die Polizei angerufen. Ne halbe Stunde später war hier die Hölle los, alles abgesperrt und 'n Haufen Polizisten haben alles untersucht. Uns hat so 'ne junge Kommissarin befragt. Wir waren richtig aufgeregt, kann ich Ihnen sagen, wie im Tatort, nur ohne Musik."
"Kannten Sie den Mann oder könnten Sie ihn beschreiben?"
Fast hätte Bruno gefragt, ob er so oder so ausgesehen habe, eben wie Lutz Strehlow, aber er hat die Kurve gerade noch gekriegt.
"Nö, das ging ja alles viel zu schnell und dann im Dunkeln, und ich habe ihn ja auch nur von hinten gesehen. Das habe ich aber auch schon alles der Kommissarin erzählt. Vielleicht sollten Sie mal mit der reden, war 'ne schicke Frau, bisschen jung für mich aber Sie…"
Der Mann grinst Bruno verheißungsvoll an, so als wären sie alte Kumpel. Ihm ist die Situation unangenehm aber er versucht genauso so blöd zu grinsen. Man weiß ja nie, vielleicht braucht er den Mann noch.
"Das ist ein Gedanke, wissen Sie denn den Namen?"
"Frau Hauptkommissarin Anschütz. Den Namen kann ich nicht vergessen, weil meine Frau mit Mädchennamen auch so heißt, 'n Ding was? Ich habe zuhause eine Visitenkarte von ihr. Da stehen so alle Nummerndrauf, Telefon, FAX und E-Mail, was Sie wollen. Soll ich die mal schnell holen?"
"Nein, ich glaube das ist nicht nötig. Ich habe ja den Namen und ich kenne ein paar Polizisten von meiner Arbeit als Autor. Außerdem darf man da nicht zu direkt sein, dann kriegt man gar nichts raus. Die dürfen ja auch nicht, jedenfalls nicht mit jedem, muss man auch verstehen. Aber auf jeden Fall vielen Dank, dass Sie so offen waren."
"Klar Mann, Hundebesitzer müssen doch zusammenhalten."
Bruno und Lucie gehen weiter und der Mann lässt seinen Rowdy erstmal direkt vor einer Gartenpforte den Weg garnieren.
Na das ist ja toll, da wird sich der Nachbar aber freuen. Wahrscheinlich scheißen die sich hier gegenseitig die Wege zu…
Als Bruno das Grundstück passiert, von dem der Mann vorhin gekommen ist, prägt er sich den Namen und die Hausnummer ein. Könnte ja sein, dass er den nochmal aufsuchen muss.
Frau Anschütz, Herr Weber, Nummer 23, Kanu-Walter. Ich glaube, ich muss mal wieder mein Notebook zu Hilfe nehmen. Wie damals…, Mindmapping, Timelines, Tabellen… Du willst doch jetzt nicht wirklich wieder alleine in den Krieg ziehen? Diesmal ist niemand da, der mich dazu auffordert, nicht wie Carla seinerzeit, die mich unter Druck gesetzt hat, die ich nicht verlieren wollte und gerade deshalb verloren habe…, am besten wird es sein, ich gehe zur Polizei. Aber was habe ich schon zu sagen? Lutz Strehlow war der Mann, da bin ich mir sicher. Aber das kann ja auch ganz harmlos gewesen sein, vielleicht hatte der einen Termin, 'ne Verabredung und war schon spät dran. Bei allen Vorbehalten ihm gegenüber, wenn ich den belaste…, ich warte erst noch mal den Freitag ab, das Klassentreffen. Mal sehen, wie er sich da präsentiert.
"So Lucie, jetzt müssen wir beide aber mal was kauen… Was hältst du von Maurice? Da können wir schön draußen sitzen."
Das kleine französische Restaurant, nicht weit von seiner ehemaligen Schule, ist für einen Werktag recht gut gefüllt. Abends bekommt man ohne Reservierung kaum mal einen Platz, dafür hat sich die gute Küche zu sehr herumgesprochen. Aber seitdem Maurice auch mittags mit einer kleinen Karte geöffnet hat, hat Bruno schon des Öfteren hier gegessen. Er findet einen Platz im Halbschatten, gerade richtig bei dem spätsommerlichen Wetter. Maurice, wie sie ihn hier allen nennen, kommt mit einer Schüssel Wasser, die er direkt Lucie vor die Nase stellt.
"Hallo Maurice, hier werden die Hunde besser behandelt als die Menschen. Wo bleibt mein Getränk?"
"Tach Bruno, bei dir weiß ich ja nie woran ich bin, der Hund trinkt immer Wasser. Willst du auch etwas essen? Ich kann die Fischsuppe à la maison empfehlen und danach ein Kalbsrückensteak oder…"
"Nee, nee, das ist mir zu viel, aber vielleicht kannst du mir die Suppe als Hauptspeise bringen. Das wäre genau das richtige für den Moment und ein großes Wasser, ich habe Durst wie 'ne Bergziege."
Als hätte Lucie verstanden, dass es Fisch gibt, begibt sie sich auf Tauchstation und dreht Bruno beleidigt das Hinterteil zu. Keine Chance auf ein paar Almosen, Fisch und dann noch als Suppe!
Maurice bringt eine große Flasche Wasser und schenkt ein Glas ein. Dann wendet er sich sofort wieder dem Hund zu und wirft ihm ein paar Hundecracker hin.
"Keine Angst, extra natürlich, ohne Farb- und Aromastoffe, glutenfrei und auch keine Geschmacksverstärker, keine Konservierungsstoffe. Hat mir Harry erlaubt."
"Was, der kommt auch in deine Kaschemme?"
"Klar, was denkst du? Er kommt zu mir und ich gehe öfter zu ihm, wir Gastronomen müssen zusammenhalten. Außerdem können wir voneinander lernen. Deine Suppe kommt gleich. Möchtest du sie mit Aioli oder lieber ohne?"
"Lieber ohne, sonst renne ich wieder den ganzen Tag mit so 'ner Plauze rum."
Bruno hat das erste Glas mit einem Mal ausgetrunken und schenkt sich das zweite ein. Er lehnt sich etwas im Stuhl zurück und genießt den Blick nach oben auf das bunt gefärbte Laub, das in den warmen Sonnenstrahlen erglüht.
Nicht mehr lange und die Bäume werden kahl sein. Hoffentlich bekommen wir einen schönen Winter, kann ruhig kalt werden, Hauptsache Winter und nicht ein sechs Monate andauernder Herbst mit Sturm und Nieselregen. Da krieg ich Depressionen, wenn ich nur dran denke.
Читать дальше