Im Heimatkundeunterricht hat Bruno gelernt, dass früher jeder, der die Brücke überqueren wollte, einen Brückenzoll von 5 Pfennigen zu entrichten hatte, und zum Fünfpfennigstück sagten alle Sechser. Warum, hat er erst viel später verstanden. Vor der Reichsgründung gab es auch echte Sechser, die den Wert von sechs Pfennigen hatten oder einem halben Groschen. Damals beherrschte aber auch noch der Taler die Währung. Erst mit der Einführung der Reichsmark wurde auch das Dezimalsystem eingeführt, wonach eine Mark 100 Pfennige hatte und der Groschen demnach 10 Pfennige wert war, und darunter gab es das Fünfpfennigstück. Na gut, dachten sich die Berliner, dann ist das eben unser Sechser.
Der stählerne Fachwerkbogen der Brücke überspannt das Tegeler Hafenbecken und endet in zwei mächtigen Pfeilern, die nach unten den festen Stand der Brücke garantieren, und nach oben in zwei überdachte Plattformen enden, von denen man eine beeindruckende Aussicht über den See genießen kann. Bruno kann es sich nicht verkneifen, wie immer wenn er die Brücke überquert, die Ausbuchtung der gemauerten Aussichtsplattformen zu betreten. Schon als Kind hat er sich hier immer versteckt, um seine Eltern zu erschrecken, wenn sie vorbei liefen. Natürlich waren die völlig überrascht, weil sie ihren Sohn gar nicht vermisst hatten. Leider ist nur noch der zur offenen Seeseite gerichtete Pfeiler für die Öffentlichkeit zugänglich. Sein Bruder auf der gegenüberliegenden Seite ist durch eine Stahlgittertür verschlossen. Dahinter führt eine Wendeltreppe innerhalb des Pfeilers nach unten. Bruno kann sich nicht erinnern, ob dieser Zugang schon immer verschlossen war. Er steht immer noch und schaut über die dunkle Wasserfläche, und auch wenn es jetzt zu dunkel ist, weiß er, dass ganz hinten das Strandbad Tegel zu sehen wäre. Wie viele Tage hat er dort mit seinen Freunden verbracht? Wie viele Stunden saßen sie auf den schwimmenden Holzkreuzen und versuchten sich gegenseitig ins Wasser zu befördern. Wer zuletzt noch oben sitzen blieb war der Held des Augenblicks, besonders wenn auch Mädchen dabei waren. Bruno verliert sich in Erinnerungen und wird erst durch einen energischen Nasenstüber in die Kniekehle wieder in die Gegenwart zurückgerufen.
"Ja, ist ja gut Lucie, ich komme."
Bruno betritt wieder die Holzplanken der Brücke. Plötzlich dann das Geräusch, das ihn herumfahren lässt, weil es hier nicht hergehört. Für den Bruchteil einer Sekunde schaut er in das Gesicht eines Mannes, dann schlägt er auch schon hart auf dem Boden auf. Der andere hat ihn brutal umgestoßen und hastet jetzt mit schnellen Schritten in die Richtung, aus der Bruno und Lucie gekommen sind. Bruno sieht den fliehenden Mann im Schein der abendlichen Beleuchtung kleiner werden, bis er die abwärts führenden Treppenstufen erreicht hat, die für den Rest sorgen, wie aus dem Nichts erschienen und wieder darin verschwunden. Lucie steht winselnd neben Bruno und leckt sein Gesicht ab.
"Nicht Lucie, hör auf damit, ich lebe ja noch."
Er kommt umständlich wieder auf die Beine und versucht keuchend erst einmal die Fassung wiederzugewinnen. Dann klopft er sich die Hose und die Jacke ab, aber so ganz sauber wird’s natürlich nicht, zu sehr ist der alte, hartnäckige Schmutz ins Gewebe eingedrungen.
So ein blödes Aschloch! Hat der mich denn nicht gesehen? Und entschuldigt sich nicht mal. Mein Gott, hat der das eilig gehabt. Wie sehe ich denn jetzt aus? Mist, meine Hände brennen wie Sau, da habe ich mir bestimmt die Haut abgeschürft. Ich muss so schnell wie möglich die Hände waschen sonst droht noch eine Entzündung oder sogar Blutvergiftung, Tetanus, was weiß ich?
"Los Lucie, wir gehen jetzt zu dir. Ich muss was trinken und die Hände waschen."
Bruno greift nach der Hundeleine und geht mit energischem Schritt zurück über die Brücke, Zielrichtung 'Mühle', dem Kneipenrestaurant seines Freundes Harry. Beim Hinuntersteigen der Treppenstufen schmerzt sein rechtes Knie.
Na das fehlt mir noch. Mit dem Knie habe ich doch sowieso immer Probleme. Pass mal auf, in spätestens drei Monaten will ich Skifahren, wehe wenn da was zurückbleibt. So ein Scheiß, nur weil ich in diesem blöden Häuschen war, der konnte mich ja gar nicht sehen. Aber warum war der auch so hektisch? Wie auf der Flucht.
Bruno betritt die 'Mühle', Lucie an seiner Seite fühlt sich sofort wie zu Hause und zerrt direkt zur Tür neben dem Tresen, wo es normalerweise hinein geht, denn dahinter liegt Harrys und damit auch Lucies Wohnung. Sie ist zwar etwas verwirrt, weil Bruno in Richtung Kachelofen zu seinem Lieblingsplatz steuert, aber Lucie wäre nicht Lucie, wenn es sie ernsthaft beschäftigen würde. Ihr Grundvertrauen in die Menschen, die sie umgeben, ist unerschütterlich. Sie verzieht sich sofort unter dem Tisch als Bruno Platz nimmt und wartet erst mal ab.
"Hallo Bruno, dich habe ich ja ewig nicht mehr hier gesehen. Warst du krank?"
Sylvia, die wichtigste Beziehung seines Freundes Harry, steht am Tisch und hat eine Speisekarte in der Hand.
"Grüß dich Sylvia. Ja stimmt, ich war lange nicht hier aber krank? Nee, zum Glück nicht. Aber eben, auf der Sechserbrücke, hat mich irgendein Volltrottel regelrecht umgerannt. Der war vielleicht in Eile kann ich dir sagen. Hat sich nicht mal entschuldigt. Bring mir mal bitte ein Glas Spätburgunder, den badischen. Die Karte kannst du hierlassen, ich schau gleich mal rein. Erst muss ich mir aber mal die Hände waschen. Wirfst du mal ein Auge auf den Hund?"
Bruno steht auf und sofort hebt Lucie den Kopf. Da ihr Ersatzherrchen aber nichts sagt, legt sie ihn gleich wieder auf ihre Vorderpfoten, eigentlich muss niemand auf sie aufpassen. In der Toilette schaut sich Bruno sein Gesicht im Spiegel an, was er an sich sehr ungern tut, aber er will doch mal sehen, ob er noch irgendwo lädiert ist. Nachdem er sich gründlich die Hände gewaschen und den Staub von Hose und Jacke notdürftig mit einem angefeuchteten Handtuch abgewischt hat, betritt er wieder den Gastraum und nimmt Platz. Der Rotwein steht schon da und Bruno nimmt einen für herkömmliche Weintrinker unanständigen Schluck, Brunos Proletenschluck. Sein Knie schmerzt noch immer aber im Sitzen geht es. Er setzt seine Lesebrille auf und studiert die erste Seite der Speisekarte, die mit den Tagesgerichten. Den Rest kennt er auswendig.
"Na Bruno, hast du was gefunden?"
"Ja, bring mir bitte die Gurkensuppe mit geröstetem Pumpernickel und danach den gemischten Aufschnittteller. Ich habe keine Lust auf was Großes. Habt ihr wieder das gute Brot?"
"Heute Morgen gebacken."
"Gut."
Sylvia nimmt die Speisekarte wieder an sich und geht zum Tresen zurück. Bruno verfolgt ihren Gang und kann Harry verstehen. In seinem Alter, was will er mehr? Sylvia ist um die Fünfzig und man sieht, dass sie einmal eine Schönheit war. Bruno weiß aber auch, dass sie harte Zeiten durchgemacht hat und die haben auch Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Sie kam erst ein wenig zur Ruhe, als sie Harry kennenlernte. Der war damals gerade von seiner Frau verlassen worden und froh, mit Sylvia eine zuverlässige Hilfe im Restaurant gefunden zu haben. Seit jener Zeit haben sie immer mehr zueinander gefunden. Sylvia schmeißt den Laden, wenn Harry mal unterwegs ist, und er kann sich auf sie verlassen. Bruno hat mal vorsichtig angefragt, warum sie denn nicht heiraten würden. Die Frage hat er danach nie wieder gestellt. Es gibt einfach Dinge, über die Harry nicht redet, auch nicht mit seinem besten Freund. Bruno glaubt aber zu wissen, dass Sylvia auch immer noch ihre eigene Wohnung hat, obwohl sie meist hier schläft.
Jaja, so ist das mit den Frauen. Ich würde dich auch nicht verschmähen. Vielleicht solltest du nicht mehr ganz so kurze Röcke tragen und etwas dezenter mit der Schminke umgehen aber sonst… Ich bin jedenfalls allein. Träume immer nur von der und mal von der. Apropos, ich müsste mich mal wieder bei Anna melden, sonst vergisst sie mich noch ganz. Oder Anita! Die schöne Anita. Ich glaube, die würde mich sogar heiraten. Da bin ich doch ganz schön ins Schleudern gekommen, emotional. Komisch, an Carla muss ich gar nicht so oft denken, obwohl mir ihre Trennung doch sehr wehgetan hat, anfangs jedenfalls…
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