"Ich bin Scharfrau, weil du es mir versprochen hast", fuhr die Fremde fort. "In dem Jahr, als ich meine Eltern verlor!"
Athan runzelte die Stirn. Dunkel erinnerte er sich. Das Fest der Fliegenden Schiffe - vor fünf Jahren etwa! Ein kleines, dünnes Mädchen, das sich zwischen den Beinen der Erwachsenen zur Bühne durchgekämpft hatte. - Ein verächtlich gezischter Satz, der sich auf einen viel zu dicken Bewerber bezog ...
"Du wirst mit den Schiffen fliegen!" Trotzig stieß die Fremde den Satz hervor. "Erinnerst du dich nun an dein Versprechen?"
"Ja, ich erinnere mich! - Bewirb dich im nächsten Jahr! Du hast einen straffen Körper und einen kühnen Geist! - Ich bleibe dabei. - Du wirst mit den Schiffen fliegen!" Athan wandte sich ab und wollte weitergehen.
"Ich bin in Not." Mehr sagte Teri nicht. Mehr gab es nicht zu sagen.
Der Obmann sah sie nachdenklich an. In seiner Funktion wurde er oft um Rat angegangen. Möglich, dass diese junge Frau wirklich Hilfe brauchte ... "Komm mit - in meine Wohnung." Athan ging voraus, gefolgt von Teri, die sich plötzlich fragte, ob sie nicht vielleicht doch zu kühn gewesen sei.
Teris Bedenken waren umsonst gewesen. Nicht nur, dass der Obmann sich ihr gegenüber außerordentlich freundlich zeigte, auch seine Frau erinnerte sich noch genau an den kleinen Vorfall auf dem Fest der Fliegenden Schiffe. Teri wurde von den beiden zum Essen eingeladen und mußte ihre Geschichte von Anfang bis Ende erzählen.
Sowohl Athan wie auch seine Frau waren von dem Mut und der Zähigkeit, die diese junge Frau in ihrem Leben schon bewiesen hatte, beeindruckt, hielten sich in ihren Äußerungen aber zurück.
Teri verschwieg auch nicht, dass sie ihr Wohnrecht in der Stadt verloren hatte und fast ohne Mittel dastand. Lediglich das Angebot von Tees erwähnte sie nicht ausdrücklich. - Sollte Athan nur glauben, dass ihr ohne seine Hilfe eine Zukunft am Bettelstab bevorstand.
Als Teri geendet hatte, ertönte das erste Hornsignal der Verkünder. Sie würde bald aufbrechen müssen, um rechtzeitig ins Fremdenhaus zu gelangen.
Athan hatte noch nicht reagiert. Teri wurde nervös. - Wenn er sie jetzt einfach so gehen ließ, würde es keinen Sinn haben, ihn je wieder anzusprechen. - Und noch immer ließ der Obmann keine Reaktion erkennen.
"Ich muß gehen." Teri schämte sich, um einen Posten als Scharfrau gebeten zu haben, wie ein Bettler um Brot. Natürlich gab es keinen Weg! Selbst wenn Athan ihr hätte helfen wollen, er würde sich doch an das Gesetz halten müssen. Es gab keinen Weg! Teri hatte ja noch nicht einmal das Recht, sich Bürgerin von Thedra zu nennen. Im Fremdenhaus mußte sie übernachten, wenn sie sich nicht strafbar machen wollte.
Teri stand auf. "Danke für eure Gastfreundschaft. Danke, dass ihr mir zugehört habt." Höflich verbeugte sie sich vor Athan und seiner Frau und wandte sich zum Gehen.
Sie fühlte, wie Mut und Hoffnung sie verließen, und zum zweitenmal an diesem Tag stiegen ihr Tränen in die Augen. - Es beweint sich eben kein Schicksal so gut wie das eigene.
Teri beschloß blitzschnell, zum Abschied ein Bild des Jammers zu bieten und machte sich schnell ein paar trübe Gedanken. - Jetzt war alles verloren! Sie würde als Kannenmacherin ihr Leben im Formerfelsen verbringen. Ihre Haut würde bleich und ihre Augen würden trübe werden. Mit kalten, glitschigen Fingern würde sie Kanne um Kanne formen, bis ein gnädiger Tod sie endlich von ihren Qualen erlöste.
Es wirkte! - Auf ihrem Weg zur Tür mußte sie plötzlich tief und schluchzend Luft holen. Das Geräusch hing wie eine Anklage an den ungetreuen Obmann im Raum, der durch die Welt ging und kleinen Kindern leere Versprechungen machte. Es war tragisch! Es war dramatisch! - Es war eine tolle Vorstellung!
"Teri!"
Langsam, mit hängenden Schultern, drehte Teri sich um. Jetzt nur nicht übertreiben, was immer der Obmann auch sagen würde.
"Wieviel Geld hast du noch?"
"Acht", Teri mußte sich räuspern, "...acht Bronzestücke, Obmann."
"Gut!" Athan schien zufrieden. "Damit kommst du erstmal aus. - Komm übermorgen zur Zeit der Tagteilung zum Tor des Schwalbenhafens. Dort wirst du Bescheid erhalten. - Aber mach dir nicht zu große Hoffnungen. Ich habe da eine bestimmte Idee, aber ich will nichts ohne die anderen Kapitäne entscheiden."
"Übermorgen", wiederholte Teri mit leiser Stimme und einem scheuen Lächeln. "Ich werde dort sein." Dann ging sie und schloß leise die Tür hinter sich.
Auf dem Hauptgang des Königsfelsens nahm Teri sich noch zusammen, aber als sie die Wachen am Eingang passiert hatte, konnte sie nicht verhindern, dass ein kleines, freches Lächeln ihr Gesicht überzog. Sie ging schnell, wobei sich ab und zu ein kleiner Hopser in den Takt ihrer Schritte schlich. Als das zweite Hornsignal die Besucher der Stadt zum Fremdenhaus rief, hüpfte und lief sie schließlich ausgelassen durch die Straßen Thedras. - Sie hatte gewonnen! - Athan würde mit der Kapitänsversammlung über sie sprechen! Sie hatte gewonnen! - Athan würde sich für sie einsetzen! - Sie würde mit den Schiffen fliegen! - Ja, sie hatte wirklich gewonnen!
Außer Atem kam Teri im Fremdenhaus an. Mit hochrotem, stolzem Gesicht breitete sie ihr Lager aus. Sie konnte ihre Freude nicht verbergen. Leise summte sie vor sich hin und streichelte liebevoll über ihre Felldecke.
Manche ihrer Mitbewohner im Fremdenhaus sahen sich vielsagend an. Sie vermuteten, die junge Frau habe wohl gerade ein beglückendes, vielleicht sogar ihr erstes, Liebesabenteuer gehabt. - Sie hatten gar nicht so unrecht.
Der folgende Tag brachte Teri eine Reihe neuer Erkenntnisse.
Mangels besserer Beschäftigung schlief sie morgens, bis die Rufe eines Wanderhändlers sie weckten.
Nach einem ausgiebigen Frühstück aus ihren eigenen Beständen gab sie ihr Bündel der Wirtin einer Hafenschenke in Obhut und besuchte die Orte, die sie als Kind so gut gekannt hatte.
Wie grau und eng alles geworden war.
Seit über zwei Jahren hatte Teri sich an die Weite des offenen Meeres und die lichtdurchfluteten, großzügig angelegten Hafenstädte des Südens gewöhnt. - Erstaunlich zu erkennen, wie Thedra im Vergleich dazu abschnitt.
Der Platz am Schneckenhafen, früher Teris Zentrum der Welt, wo die größten Feste des Kontinents gefeiert wurden, war ein Steingeviert mittlerer Größe, etwa wie ein Vorortmarkt von Osange. Der Hafen selbst war klein. - Regelrecht klein.
Der Strand, früher ein endloser Spielplatz voller feinen Sandes, war zu einem kurzen, klippenumstandenen Stück Kies geworden, der unter den Füßen knirschte. - Kein Vergleich mit dem wirklich endlosen, weißen Strand bei Kaji!
Auch waren die Wohntürme längst nicht mehr so hoch, wie sie Teri einst erschienen waren. Einzig die Königsklippe ragte in wirklich imponierender Höhe über den Häfen auf.
Teri fühlte sich bestohlen und beschenkt zugleich. - Bestohlen um die Illusion in der Stadt aller Städte, im Land aller Länder zu leben. - Beschenkt um die Erkenntnis, dass es freundliche und unfreundliche, kluge und dumme, sanfte und gewalttätige Menschen überall auf der Welt gab. - Ob sie sich hier in Thedra oder in Isco, in Osange oder Ago aufhielt, überall gingen die Menschen ihren Geschäften nach, zankten und vertrugen sich und scherten sich nur wenig darum, was Götter und Könige vorschrieben.
Sicher gab es Unterschiede zwischen dem Gastgeber in Kaji, der als geizig galt, wenn er den Gast nicht aufs Feinste bewirtete und dem Gastgeber aus Thedra, der seinen Gast geizig nannte, wenn der sich sein Essen nicht selbst mitbrachte, das sah auch Teri. - Aber hier, im alten Thedra, fühlte sie sich zum erstenmal so richtig als weitgereiste Weltbürgerin und lebte dieses Gefühl auch in vollen Zügen aus.
Die klimatischen und geographischen Gegebenheiten völlig außer acht lassend, begann sie, Thedra vor ihrem geistigen Auge komplett umzugestalten. Thedra hätte eine so schöne Stadt sein können, fand sie, wenn sich die Bewohner nur ein wenig Mühe geben würden. - Sie selbst hatte jedenfalls die berühmte thedranische Arroganz gegen die Ignoranz der Weltreisenden eingetauscht. Ihr reichte das Blümchen in der Mauerspalte nicht mehr. - Es mußten Palmen sein! Die Straßen hätten breiter, die Plätze größer und die Wohnungen prächtiger sein müssen! Bedauernd stellte Teri bereits am Vormittag fest: Thedra war Provinz!
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